So tickt Gesicht Zeigen! – BLOG

Heute auch schon fassungslos gewesen über die politischen News? Wir finden die Fassung wieder. Und wir helfen, den Mut nicht zu verlieren!

Hier kommentieren Mitarbeiter*innen von Gesicht Zeigen! aktuelle Themen – und nehmen kein Blatt vor den Mund!


27. Januar 2024

Ohne Vergangenheit keine Zukunft 

Andenken, erinnern, mahnen – und auch endlich handeln

Am 27. Januar 1945 wurde das Vernichtungslager Auschwitz von sowjetischen Soldaten befreit. Bis heute steht Auschwitz für das Unsagbare, den millionenfachen Tod, den der Nationalsozialismus über ganz Europa und die Welt gebracht hat. Millionen ermordeter Jüdinnen und Juden, aber auch Sinti* und Roma*, Homosexuelle, Behinderte, Kriegsgefangene, politische Gegner*innen. Das war vor 79 Jahren. Wir erinnern und wir gedenken.  

Jeden Tag hält die Auschwitz-Gedenkstätte in den sozialen Medien die Erinnerung an die Opfer mit der Schilderung eines Schicksals wach. Aus Zahlen werden Lebenswege, die in der Gaskammer endeten. Babys, Kinder, Jugendliche, Erwachsene. Egal ob jung oder alt- sie geben den Opfern ein Gesicht und halten so das Gedenken an die Millionen Menschen wach. So muss die Vergangenheit immer wieder Thema sein, auch um den Opfern mit einem Gedenken an sie gerecht zu werden. Aber reicht das wirklich aus?  

Ich glaube, wir werden den Ermordeten so nur zu einem kleinen Teil gerecht. Denn wer sich auf das Gedenken beschränkt, nimmt nicht war, wie die Wirklichkeit heute bei uns aussieht. Seit Jahren wird von Initiativen und Organisationen wie Gesicht Zeigen! darauf hingewiesen, wie der Rechtsextremismus sich in unserer Gesellschaft immer mehr festigt. Mit Leugnung und Relativierung sollen die Verbrechen in der Vergangenheit Stück für Stück abgeschwächt werden. Rostock-Lichtenhagen, Mölln, Halle, Hanau oder Solingen scheinen komplett verdrängt.  

Gegenwart 

Wenn am 31. Januar im Bundestag die Holocaust-Überlebende Eva Szepesi und der Sportjournalist Marcel Reif sprechen, wird den Toten gedacht, aber sicher auch über die Gegenwart gesprochen. Und da geht es dann nicht nur darum, wie sprunghaft die Anschläge auf Jüdinnen und Juden in Deutschland seit dem 7. Oktober gestiegen sind. Die Davidsterne, die über Nacht an die Häuser und Wohnungstüren geschmiert wurden, sind Zeugnisse dieser Entwicklung.  

Es geht in der Beschreibung der Gegenwart auch um das Treffen von Rechtsextremisten im Landhotel Adlon in Potsdam. Sie haben dort sehr konkret ihre Deportationspläne von Menschen mit und ohne Pass aus Deutschland besprochen. Die Rechercheredaktion Correctiv beschreibt die Teilnehmenden so: „Manche sind Mitglied bei der AfD, ein führender Kopf der Identitären Bewegung ist dabei. Manche sind Burschenschafter, dazu Bürgertum und Mittelstand, Juristen, Politikerinnen, Unternehmer, Ärzte. Auch zwei CDU-Mitglieder sind dabei, Mitglieder der Werteunion.“. Correctiv berichtet, wie das hochrangige AfD-Mitglied, Roland Hartwig, den Teilnehmenden auch vermittelte, den Deportationsplan im Bundesvorstand der AfD vorzustellen. 

Die nüchterne Aufzählung der Berufe und die klaren Schilderungen aus dem Geheimtreffen machen klar, dass Rechtsextremismus längst mitten unter uns angekommen ist. Und wenn von manchen politischen Entscheider*innen immer noch der vermeintlich relativierende Zungenschlag zu hören ist, in dem man rechtsextrem immer nur mit linksextrem in einer Einheit ansprechen darf, ist die Gegenwart bei diesen noch nicht wirklich angekommen.  

Zukunft  

Während sich also die Rechtsextremisten im Geheimen trafen, wurde in der bundesdeutschen Öffentlichkeit ein ganz anderes Thema diskutiert: wie kann nach dem Bundesverfassungsgerichtsurteil die 60 Milliarden Euro-Lücke im Bundeshaushalt geschlossen werden? Ja und da wurde ernsthaft alles dafür getan, den Demokratieprojekten, den Initiativen und NGOs, die Aufklärungsarbeit gegen rechts leisten, sowie der mobilen Rechts- und Opferberatung die Finanzierung zu streichen. Aber nicht nur bei Initiativen der Zivilgesellschaft, auch bei der Demokratiearbeit der Bundeszentrale für politische Bildung sollte wegen der gebotenen Einsparungen radikal gekürzt werden. Das war Realität und beschrieb über viele Wochen die Zukunft der Aufklärungsarbeit gegen die rechtsextremistischen Demokratiezerstörer in unserem Land. Die Vielen, die jetzt auf den Straßen für Weltoffenheit, Demokratie und Toleranz stehen, machen Mut. Aber der Protest der Zivilgesellschaft reicht nicht aus.  

Jetzt muss die Politik endlich die Rahmenbedingungen schaffen, um Demokratiearbeit – und ein Blick in die Vergangenheit zeigt, wie nötig sie ist – wirklich auch nachhaltig zu ermöglichen. 

Das sind wir den Opfern aus Auschwitz und allen anderen Mordlagern der Nazis schuldig. Andenken, erinnern, mahnen – und auch endlich handeln. Das ist ihr Vermächtnis, dem wir als Gesellschaft gemeinsam gerecht werden müssen.  


09. Januar 2024

 Geht’s eigentlich noch?!

 Kämpfen wir für eine Demokratie, in der friedliche Demonstrationen ein hohes Gut bleiben

Von Sophia Oppermann

Vergangene Woche wollte Wirtschaftsminister Robert Habeck in seinem Heimat-Bundesland Schleswig-Holstein mit der Fähre vom Urlaub zurückkehren – doch daran hinderte ihn in Schlüttsiel ein Mob von mehr als hundert Demonstrant*innen, die vorgaben, Bauern zu sein. Die Gruppe war aggressiv, brüllte hasserfüllte Parolen und wirkte sehr bedrohlich für alle Fahrgäste, die auf der Fähre waren. Das Angebot Habecks, mit einer Delegation zu reden, lehnten die Protestierenden ab. Eine Erstürmung der Fähre, auf der neben dem Grünen-Politiker noch etwa 30 Passagier*innen zum Festland übersetzten wollten, verhinderte der Kapitän in letzter Minute, indem er wieder ablegte. In der Menge sollen Feuerwerkskörper gezündet worden sein. Die Polizei setzte ihrerseits Pfefferspray ein, um die Gruppe auseinanderzutreiben. Festnahmen gab es keine, auch wenn die Reederei von Nötigung sprach und ein Polizeisprecher von Landfriedensbruch. Inzwischen ermittelt die Staatsanwaltschaft unter anderem wegen Nötigung.

Entschuldigung – und wo blieb bitte der Aufschrei?

Entschuldigung – und wo blieb bitte der Aufschrei? Haben wir schon wieder vergessen, wohin Verächtlichmachung, Hass und Hetze gegenüber dem politischen Gegner führen können? Nach dem Mord an Walter Lübcke sprachen viele davon, dass “aus Worten Taten wurden”. Der Mob am Fähranleger war durchaus zu Taten bereit, zumindest machte er den Anschein. Eine solche Situation ist nicht nur äußerst bedrohlich, sondern rechtsstaatlich völlig indiskutabel. Geht´s noch?!

Am Tag danach war vor allem lautes Schweigen aus der Union-Spitze zu vernehmen. Bayerns Vize-Ministerpräsident Hubert Aiwanger (Freie Wähler) verteidigte den Mob sogar und schaffte die Täter-Opfer-Umkehr ebenso wie die BILD-Zeitung, die davon sprach, dass sich der Minister am frühen Freitagmorgen von Bord „schlich“. Erst am Wochenende verurteilten CSU-Politiker die gewaltsame Aktion. Auch CDU-Chef Merz sprach schließlich von Straftaten, die ein Rechtsstaat nicht dulden dürfe.

Lassen wir uns keine Angst einjagen

Politiker*innen der Ampel-Koalition betonten dagegen schon am Freitag, dass Proteste und Demonstrationsfreiheit ein hohes Gut sind – Gewalt sie aber bedrohe. Habeck selbst äußerte seine Sorge angesichts der aufgeheizten Stimmung im Land. Er selbst sei ja durch die Polizei geschützt. Aber diejenigen, die sich solchen und ähnlichen Angriffen ohne diesen Schutz entgegenstellen, seien „die Heldinnen und Helden der Demokratie“.

Ja, seien wir alle zusammen Held*innen der Demokratie. Lassen wir uns keine Angst einjagen von der Verrohung in Deutschland. Im Gegenteil: arbeiten wir noch motivierter als zuvor daran, uns zu vernetzen und gemeinsam für eine Demokratie zu kämpfen, in der Demonstrationen und Meinungsfreiheit ein hohes Gut bleiben. Und in der wir menschlich bleiben, auch in der Kontroverse.


30. November 2023

Mein feministisches Herz blutet

Von Sophia Oppermann

Warum war der Aufschrei nach dem Massaker der Hamas in Israel so leise? Wo bleibt die wirkungsmächtige Solidarität der Menschen in Deutschland mit den Jüdinnen und Juden, die ausgerechnet hier in Deutschland Angst haben? Das fragen sich nicht nur viele Jüdinnen und Juden. Der Pianist Igor Levit fühlt sich vor allem von Künstler*innen allein gelassen – und organisierte daher gemeinsam mit Michel Friedman Ende November einen bewegenden Solidaritätsabend im Berliner Ensemble. In der Clubszene, die sich als links, progressiv, antirassistisch versteht, war es trotz des Überfalls der Hamas-Terroristen auf das Supernova-Festival am 7. Oktober, bei dem 260 Raver*innen getötet wurden, lange Zeit bedrückend still. Erst Mitte November organisierte ein Kollektiv eine Soliparty in Berlin.

Und ich? Ich bin Geschäftsführerin von Gesicht Zeigen! – Für ein weltoffenes Deutschland. Mit unserem Verein kämpfe ich gegen Antisemitismus und andere Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit. Der Terrorangriff auf die Menschen in Israel hat uns zutiefst erschüttert und uns zugleich darin bestärkt, entschlossen unseren Kampf gegen Antisemitismus weiterzuführen und uns für Dialog und Respekt einzusetzen. Wir haben Solidarität mit Jüdinnen und Juden in Israel und in Deutschland organisiert und Mitgefühl mit allen Menschen im Nahost gezeigt, die um ihre Liebsten trauern und in Angst und Sorge sind. Wir versuchen, dem hasserfüllten Entweder–Oder–Schema irgendwie ein versöhnliches, menschliches Ideal entgegenzusetzen.

Ich bin auch Frau und Feministin. Die Verbrechen, denen jüdische Frauen und Mädchen beim Überfall der Hamas schutzlos ausgesetzt waren, treffen mich tief ins Herz, lassen mir keine Ruhe. Die unbeschreiblichen Grausamkeiten, die die Terroristen den Mädchen und Frauen – teils vor den Augen ihrer Angehörigen, teils vor den Kameras der Täter – angetan haben, beschäftigten und bewegen mich seit Wochen. Diejenigen, die von Terroristen der Hamas gequält, vergewaltigt, verstümmelt und ermordet wurden, sind gezielt als Frauen und Mädchen angegriffen worden. Ihr Leid ist für mich unvorstellbar. Ihnen gehört mein volles, tiefes Mitgefühl, ich fühle mich ihnen solidarisch verbunden und ich bin traurig.

Und ich bin mittlerweile wütend.

Wütend auf das Schweigen so vieler, die sich nicht zu Wort melden. Die nichts zu sagen haben zu den frauenverachtenden Verbrechen, die an unseren Schwestern begangen wurden. Und die das als Vollzeit-Aktivistinnen für Frauenrechte in Deutschland oder auf internationaler Ebene eigentlich tun sollten – aus menschlichen und auch aus politischen und professionellen Gründen.

Als sich die Frauen gegen das Regime in Iran auflehnten, kannte jede*r hier ihren Slogan Frau, Leben, Freiheit, denn die Solidarität in der Öffentlichkeit online wie offline war zurecht groß. So groß wie das Schweigen der Feministinnen jetzt.  Der Angriff am 7. Oktober war nicht nur ein antisemitischer, sondern auch ein frauenfeindlicher, der sich gegen sexuelle Freiheit und Emanzipation richtete.

Aber ich höre nichts.

Als die Journalistin und vielfach ausgezeichnete Aktivistin Düzen Tekkal als eine der wenigen diese Tatsache zum Internationalen Tag der Gewalt gegen Frauen auf X kritisierte, wurde sie beschimpft und angefeindet.

Frauen in Israel fühlen sich allein gelassen. Das öffentliche Schweigen vieler feministischer Organisationen verstärkt ihre Isolation und Angst. Eine derart unsolidarische Öffentlichkeit macht es zudem Opfern sexualisierter Gewalt noch schwerer, über ihre Traumata zu sprechen. Einige Frauen in Israel fordern jetzt in der Kampagne #MeToo_Unless_UR_A_Jew Solidarität ein. Sie wollen eine Million Unterschriften sammeln, um die UNO zu einer Verurteilung der sexualisierten Gewalt an israelischen Frauen durch die Hamas-Terroristen aufzufordern, die als Kriegsverbrechen gilt.

Wo seid Ihr – queer-feministische Vereine, Frauenrechtsgruppen, intersektionale Gruppierungen, Professorinnen, Aktivistinnen, Speakerinnen, FLINTA*? Schreien die muslimischen Frauen auf, wenn ihre jüdischen Schwestern gequält werden? Welcher christliche Frauenverband hat sich solidarisiert? Wie viele PoC-Frauen setzen sich für die Frauen der Kibbuzim ein? Wer leidet mit den jungen Frauen, die in blanker Panik von einem Peace-Tanzfestival direkt in die Hände ihrer Folterer und Mörder rannten?

Mein feministisches Herz blutet.  Ich wünsche mir Empathie und Solidarität von Frauen mit Frauen – ist das wirklich zu viel verlangt? Schwestern, zählt das Leid jüdischer Frauen für Euch nicht?

P.S: Und nein, es geht in nicht um Kontextualisierung, Gleichsetzung, oder eine Pro-Israel-Position, die das Leid der Palästinenser*innen nicht sieht. Ich sehe dieses Leid. Jede*r, die/der ein menschliches Herz hat, weint bitter um die Opfer dieses Krieges, die Frauen und Kinder, die Menschen in Gaza.

 


20. November 2023

Politik muss „wehrhafte Demokratie“ mit Taten füllen

Auch wir Bürger*innen müssen für unsere freiheitliche Grundordnung kämpfen

Von Sophia Oppermann

Die Ereignisse in Nahost haben die besorgniserregenden Wahlergebnisse in Hessen und Bayern im Oktober in den Hintergrund treten lassen. In beiden Bundesländern gewann die national-völkische AfD Stimmen dazu und landete in Hessen mit 18,4 Prozent auf dem zweiten Platz und in Bayern hinter der CSU und den Freien Wählern von Hubert Aiwanger auf Platz 3 mit 14,6 Prozent.  In beiden Bundesländern ist sie damit die stärkste Oppositionspartei.

Diese Ergebnisse zeigen: Die in Teilen verfassungsfeindliche Partei ist nicht „nur“ ein Ost-Phänomen. Die Zusammensetzung der gerade auf 32 Mitglieder gewachsenen Landtagsfraktion in Bayern gleicht einem Gruselkabinett, 19 der 32 AfD-Abgeordneten stehen dem radikalen Lager des Faschisten Björn Höcke nahe. Bundesweit Aufsehen erregte, dass der jüngste Abgeordnete Daniel Halemba wegen des Verdachts der Volksverhetzung mit Haftbefehlt gesucht und verhaftet wurde. Inzwischen ist er unter Auflagen wieder auf freiem Fuß.

AfD hat es geschafft, mit menschenfeindlichem Programm als „normal“ zu gelten

Zurecht gefeiert wurde zuletzt die Niederlage des AfD-Kandidaten bei den Landratswahlen im Dahme-Spreewald-Kreis (Brandenburg), die ein von allen anderen Parteien unterstützter parteiloser Kandidat gewann. Was man dabei nicht vergessen darf: 35,2 Prozent der Wähler*innen stimmten ja für den Bundestagsabgeordneten Steffen Kotré (AfD), der dem „Flügel“ von Höcke angehörte und schon seit langem mit rechtsextremen Positionen auf sich aufmerksam macht. Mehr als ein Drittel der Stimmen für einen Rechtsextremen – Normalität in Deutschland.  Und dass weniger als die Hälfte der Wahlberechtigten überhaupt ihr Stimmrecht wahrnehmen – ist auch keine Nachricht wert.

Die für unsere Demokratie gefährliche Partei hat es geschafft, mit ihrem menschenfeindlichen Programm als normal zu gelten. Der Verfassungsschutz hat die Bedrohung durch die AfD endlich erkannt und den Landesverbandesin Sachsen-Anhalt als zweiten nach Thüringen als „gesichert rechtsextremistisch“ eingestuft. Das gleiche gilt für die Jugendorganisation Junge Alternative in mehreren Bundesländern.

Was ist zu tun – vor dem Super-Wahljahr 2024?

So viel zur aktuellen Bestandsaufnahme. Doch was ist zu tun? Gerade angesichts des bevorstehenden Super-Wahljahrs 2024, mit Wahlen auf Kommunal- und Landesebene sowie der Europawahl? Wir Bürger*innen wie auch die Politiker*innen müssen JETZT das Konzept der wehrhaften Demokratie mit Taten füllen.

Das bedeutet zum einen, dass alle anderen Parteien sich von der AfD konsequent abgrenzen und die Demokratiefeinde ausgrenzen müssen. Die Gründe dafür haben wir im August erläutert. Zum anderen dürfen Politiker*innen der demokratischen Parteien den öffentlichen Diskurs keinesfalls immer weiter nach rechts verschieben, indem sie rassistische Positionen der AfD übernehmen und Placebo-Politik betreiben, wie es derzeit geschieht. Im Zweifel wird das Original gewählt.

Stattdessen sollten die Regierungen in Bund und auf Länderebene die wirklichen Probleme angehen, ob in der Bildungs- oder Sozialpolitik, bei der Bekämpfung des Klimawandels oder in Fragen der Migrationspolitik.

Das Grundgesetz bietet Instrumente gegen Verfassungsfeinde, nicht nur das Parteiverbot

Zudem sieht auch das Grundgesetz mögliche Maßnahmen gegen Verfassungsfeinde vor, die die Mütter und Väter des Grundgesetztes nach ihren Erfahrungen aus der Weimarer Republik verankert haben.  Einerseits gibt es die Möglichkeit eines Parteiverbotes. Wäre es nicht an der Zeit, dass das Bundesverfassungsgericht in die Lage versetzt wird, die Partei zu verbieten – oder auch nicht. Die politische Entscheidung dazu, diesen Prozess in Gang zu bringen, müssten Bundestag, Bundesrat oder Bundesregierung treffen und den Antrag stellen. Das Verfahren wäre nicht einfach und würde Jahre dauern. Aber die Parteien müssen ihrer Verantwortung und Aufgabe in einer wehrhaften Demokratie nachkommen und den Bürger*innen darlegen, warum die AfD verfassungsfeindlich ist. Diese inhaltliche Arbeit können wir von den demokratischen Parteien verlangen.

Ein mögliches AfD-Verbot würde nichts an der Verbreitung rechter Einstellungen in der Bevölkerung ändern und auch nicht die Neugründung einer anderen Partei verhindern. Durch ein Verbot würden aber die Abgeordneten ihre Mandate verlieren und das Parteivermögen eingezogen. Die Partei wäre nicht mehr zu Wahlen zugelassen. Erwiesene Antidemokrat*innen könnten so daran gehindert werden, die Demokratie mit den Mitteln der Demokratie abzuschaffen.

Ausschluss aus der staatlichen Finanzierung

Ein weiteres Instrument, das der Bundestag nach dem gescheiterten Verbot der NPD schuf, ist die Möglichkeit, verfassungsfeindliche Parteien von der staatlichen Finanzierung auszuschließen. Ob dies Bestand hat, muss das Bundesverfassungsgericht noch entscheiden, ein entsprechendes Verfahren läuft noch. Ein Ausschluss der AfD aus der Parteienfinanzierung würde der Szene Millionen Euro für rechtsradikale und rassistische politische Arbeit entziehen. 2022 erhielt die AfD geschätzt 60 bis 80 Millionen Steuer-Gelder für die Partei sowie für die Fraktionen im Bundes- und in den Landtagen. Immerhin hat der Bundestag mit dem gerade verabschiedeten Stiftungsfinanzierungsgesetz sichergestellt, dass die AfD-nahe Desiderius-Erasmus-Stiftung weiterhin kein Geld vom Staate bekommt.

Bürgerrechte von Verfassungsfeind*innen können eingeschränkt werden

Das Grundgesetz sieht aber auch vor, dass Bürgerrechte von Verfassungsfeind*innen eingeschränkt werden können, wie die Verfassungsrechtlerin Gertrude Lübbe-Wolff kürzlich erläuterte. Dazu müsste der Bundestag, die Bundes- oder eine Landesregierung beim Bundesverfassungsgericht einen Antrag auf Grundrechtsverwirkung nach Artikel 18 Grundgesetz stellen. Die Verfassungsrichter*innen würden dann entscheiden, ob etwa die Rechte des Faschisten Höcke eingeschränkt würden, er das Wahlrecht verlieren würde, oder die Wählbarkeit oder die Befähigung, ein öffentliches Amt auszuüben.

Auch auf anderen Ebenen kann sich die Demokratie wehrhaft zeigen. So sieht beispielsweise das Thüringer Kommunalwahlrecht ausdrücklich vor, dass Verfassungsfeind*innen keine Bürgermeister*innen werden dürfen. Vor der Kommunalwahl im nächsten Jahr hält ein Leitfaden Wahlleiter*innen zum schnellen Handeln an, wenn Extremist*innen kandidieren wollen. Auch das Strafrecht, das Beamten- oder Waffenrecht kann und muss konsequent gegen Rechtsextremisten eingesetzt werden.

Zur wehrhaften Demokratie gehört auch Bildungs- und Präventionsarbeit

Wir sehen:  es gibt durchaus demokratische Mittel, der AfD die antidemokratische Arbeit zu erschweren. Zur wehrhaften Demokratie gehören zudem auch Demokratiebildung und Präventionsarbeit gegen Extremismus. Und zwar nachhaltig und langfristig! Bei vielen der Projekte stehen Kürzungen der staatlichen Zuschüsse an – oder werden zumindest diskutiert. Das darf nicht sein. Wir müssen uns ganz besonders auf diesem Gebiet solide und nachhaltige Arbeit leisten. Die Ampelkoalition hatte zugesichert, dies in einem Demokratiefördergesetz zu sichern. Es lässt weiter auf sich warten.

Auch wir Bürger*innen sind gefordert, die braune Welle zu stoppen

Nicht zuletzt sind wir alle gefragt und gefordert:  wir Bürgerinnen und Bürger müssen unsere Demokratie wehrhaft verteidigen und die Werte unseres Grundgesetzes achten und schützen. Wir müssen jeden Tag erneut aufstehen, nicht müde werden, auf die Straße gehen, laut und streitbar gegen Hass sein, Brücken bauen, wertschätzende miteinander umgehen und vor allem wählen gehen!

Halten wir die braune Welle auf!


27. Oktober 2023

Nie wieder ist jetzt
Wir müssen handeln!

Von Sophia Oppermann und Rebecca Weis

Der Terrorangriff der Hamas auf israelische Zivilisten am 7. Oktober ist ein Menschheitsverbrechen, das kein aber im Nachsatz erlaubt. Der Schock, die Wut und die Trauer über dieses Massaker sitzen sehr tief. Die Menschen in Israel haben Unvorstellbares, Schreckliches erlitten, und der Alptraum nimmt ja kein Ende. Sie alle haben unser tief empfundenes Mitgefühl.

Der Angriff der Hamas und die militärischen Konsequenzen darauf haben aber nicht nur Auswirkungen auf die Menschen in der Region – sondern auch auf Juden und Jüdinnen hier in Deutschland. Viele von ihnen haben am 7. Oktober Verwandte oder Bekannte verloren, sie sind verzweifelt und in tiefster Trauer. Andere haben Freunde und Angehörige in Israel oder unter den Verschleppten im Gazastreifen und bangen um sie.

Sollten wir nicht der Unmenschlichkeit mit Menschlichkeit begegnen, wäre das nicht das Gebot der Stunde? Doch anstatt das sich Juden und Jüdinnen in Deutschland sicher fühlen können, geschützt durch Empathie, Solidarität und Freundschaft, haben sie berechtigte Angst um ihre eigene Sicherheit und die ihrer Familien. Denn die Zahl der antisemitischen Übergriffe und Angriffe hierzulande steigt seit dem Überfall auf Israel massiv an.

Nie wieder sollten Jüdinnen und Juden angegriffen werden

Jüdinnen und Juden fühlen sich in ihrer Heimat so unsicher wie seit Jahren nicht mehr. Es ist unerträglich, dass in Berlin und Dortmund Häuser und Wohnungen mit dem Davidstern beschmiert und damit als vermeintlich jüdisch markiert werden – erstmalig wieder seit der Zeit des Nationalsozialismus. Molotowcocktails werden auf eine Synagoge in Berlin geworfen. Besucher eines israelischen Restaurants und als jüdische gelesene Menschen werden bespuckt, bedroht, attackiert. Nie wieder sollten Jüdinnen und Juden hier angegriffen werden, so wurde es jahrzehntelang von Zivilgesellschaft und Politik beschworen. Nie wieder war stets die Verantwortung, die sich aus dem Holocaust ableitet. Jetzt aber erleben wir eine neue Welle antisemitischer Gewalt.

Wir alle müssen couragiert handeln und antisemitischen Narrativen widersprechen

Dem dürfen wir nicht machtlos gegenüberstehen. Wir dürfen nicht hinnehmen, dass jüdische Familien Angst haben, dass sie nicht als jüdisch erkannt werden wollen, ihre Kinder nicht mehr in die Schule schicken. Wir alle müssen Haltung zeigen und couragiert handeln. Jederzeit und überall: In der Familie, im Bekanntenkreis und auf der Straße. Wir müssen antisemitischen Narrativen widersprechen! Fragen Sie jüdische Freund*innen, was sie jetzt brauchen. Gehen Sie in jüdische Restaurants, deren Umsatz leidet. Gehen Sie zu Mahnwachen oder Demonstrationen wie jene am Sonntag in Berlin. Schweigen Sie nicht! Verschaffen Sie sich Gehör! Zeigen Sie den Menschen in Israel und den Jüdinnen und Juden in Deutschland, dass sie nicht allein sind.

Hüten wir uns vor antimuslimischem Rassismus

Auch den palästinensischen Zivilisten in Gaza gelten unsere Gedanken. Sie erleiden Krieg und Zerstörung, viele verlieren Familienangehörige oder Freunde. Der Kampf Israels gegen die Hamas wird viele unschuldige Opfer unter der Zivilbevölkerung bringen. Unsere Gedanken und unser Mitgefühl sind auch bei ihnen. Und auch sie haben Angehörige hier in Deutschland, die sich Sorgen machen und um die Toten trauern. Pauschalisieren wir bitte nicht! Sicher: die Terror-Verherrlichung auf deutschen Straßen ist unerträglich. Aber nur sehr wenige Menschen mit arabischen Wurzeln und nur sehr wenige Muslim*innen sind Anhänger terroristischer Organisationen wie der Hamas. Hüten wir uns vor antimuslimischen Rassismus.

Antisemitismus mag sich aktuell auf Israel-feindlichen Demonstrationen artikulieren – aber wir dürfen nicht vergessen, dass Deutschland eine jahrhundertelange barbarische Tradition von Judenhass hat. Er zeigt sich heute auch in der extremen Linken, vor allem aber konstant unter Rechtsextremen.

Es gibt Zeichen der Hoffnung

Doch – es gibt auch hoffnungsvolle Zeichen!  Der Besuch von Vertretern muslimischer Verbände in der Synagoge in Köln vor wenigen Tagen war ein solches Zeichen: menschlich, ehrlich, mitfühlend. Der Vorstand der jüdischen Gemeinde, Abraham Lehrer, zeigte sich nach dem Treffen gerührt. Die Verbände hätten sich deutlich von der Hamas distanziert und ihr Beileid bekundet. „Da ist kein Krümelchen Zweifel übriggeblieben – das ist für uns ein Quantensprung.“ Die Einladung zum Gegenbesuch in einer Bochumer Moschee nahm der Vorstand der Synagogen-Gemeinde sofort an.

Lassen auch wir keinen Zweifel aufkommen an unserem Mitgefühl und unserer belastbaren Solidarität mit allen, die voller Trauer, Sorge und Angst sind. Setzten wir uns weiter für Dialog und Verständigung ein. Denn nur mit dem Glauben an die Menschlichkeit im Herzen werden die Wunden, die so schmerzhaft sind, irgendwann wenigstens vernarben können.


10. Oktober 2023

Trauer, Entsetzen und Solidarität mit Israel
Wir werden uns weiter gegen Antisemitismus und für Dialog und Verständigung einsetzen

Von Sophia Oppermann & Rebecca Weis

Der Terrorangriff auf die Menschen in Israel erschüttert uns zutiefst und macht uns eigentlich sprachlos. Wir möchten trotzdem unsere Gefühle und Gedanken mit Ihnen teilen, auch, um der Hilflosigkeit ein wenig entgegenzuwirken.

Seit Ende des Zweiten Weltkrieges gab es noch nie einen so brutalen Angriff auf jüdische Frauen, Männer und Kinder. Die barbarische Attacke übersteigt unsere Vorstellungskraft, hinterlässt uns fassungslos und traurig: Hunderte Tote, Dutzende Verschleppte, Tausende Verletzte und Traumatisierte. Der menschenverachtende Terror der Hamas gegen die Zivilgesellschaft ist durch nichts zu rechtfertigen.

Wir machen uns Sorgen um die Zukunft der gesamten Region, um Freiheit, Sicherheit und Frieden. Unsere Kooperationspartner*innen In Israel haben große Sorgen und Ängste. Unser geplantes Projekt, bei dem es auch um die Verständigung zwischen jüdischen und arabischen Israelis geht, muss warten.

Für uns in Deutschland ziehen wir die Konsequenz: Wir werden hier noch entschlossener unseren Kampf gegen Antisemitismus führen und uns für Dialog und Respekt einsetzen. Wir lehnen Pauschalisierungen ab. Verallgemeinerungen führen dazu, dass konstruktive Gespräche und Verständigung nicht mehr stattfinden können. Für uns sind die „Freudenfeste“ über den Terror der Hamas unerträglich. Aber natürlich wissen wir, auch aus unserer Arbeit gegen antimuslimischen Rassismus, dass nur ein kleiner Teil der muslimischen Community so denkt. Und wir alle müssen Zivilcourage zeigen, wenn – wie leider schon oft in der Vergangenheit bei der Eskalation von Gewalt in Nahost – antisemitistische Attacken zunehmen.

Lassen Sie uns in Trauer und Solidarität zusammenstehen. Hoffen wir gemeinsam, dass die Situation nicht zu einem Flächenbrand eskaliert und die Gewalt bald ein Ende findet. Unsere Gedanken sind bei allen, die voller Trauer, Sorge und Angst sind. Wir sprechen den Familien, die in Israel und den palästinensischen Gebieten Angehörige verlieren, unser tiefstes Mitgefühl aus.

Lassen Sie uns empathisch sowie engagiert bleiben und uns weiter für Dialog und Verständigung einsetzen.


18. September 2023

Immer wieder Thüringen
Thüringen hat ein Problem mit Rechtsextremisten

Von Rebecca Weis

Thüringen hat ein Problem mit Rechtsextremisten. Nirgendwo ist die AfD radikaler und rechtsextremer als dort. Nirgendwo wäre entschiedene Abgrenzung und konsequente Bekämpfung wichtiger als dort.

Stattdessen wird ausgerechnet in Thüringen ein weiterer Schritt getan, der zur Normalisierung und Verharmlosung der Partei beiträgt, die dort von dem Faschisten Björn Höcke geführt wird.

Doch offenbar hat auch die Thüringer CDU und FDP ein Problem zu erkennen, wohin das führt – und das nicht zum ersten Mal. Nix gelernt aus der Causa Kemmerich. Und all das Gerede von der Brandmauer ist obsolet, es gibt sie nicht.

Offensichtlich sind weder CDU noch FDP als konsequente Verbündete im Kampf gegen das Erstarken der Rechtspopulisten zu betrachten. Denn sie sorgen dafür, dass das AfD-Narrativ „man sei eine bürgerliche Partei“, die genau wie alle anderen zu behandeln sei, bestätigt wird.

Ein fatales Signal – sie haben der Demokratie einen Bärendienst erwiesen.


07. September 2023

Causa Aiwanger ist unerträglich

Wenn „Nie wieder“ ernst gemeint wäre, wäre Rücktritt unvermeidlich

Von Rebecca Weis

Seit Tagen verfolgen wir die Vorgänge in Bayern. Es wird jeden Tag schlimmer!

Das antisemitische Flugblatt in übelstem Nazi-Jargon, das vor 35 Jahren in der Schultasche Hubert Aiwangers gefunden wurde, ist unerträglich. Das allein reicht schon aus – es handelt sich eben nicht um einen AfD-Politiker, sondern um den stellvertretenden Ministerpräsidenten eines nicht ganz unwichtigen Bundeslandes. Übrigens im Westen….

Noch unerträglicher aber ist der Umgang des Vorsitzenden der Freien Wähler mit den Vorwürfen: Erst abstreiten, dann scheibchenweise zugeben. Und dann Erinnerungslücken konstatieren, bei einem Ereignis, dass er „einschneidend“ nennt, und das „wichtige gedankliche Prozesse angestoßen“ habe. Sein Antisemitismus ist belegt, es fehlt jede klare Distanzierung.

Dass er sich jetzt als Opfer einer „Hexenjagd“ und einer politischen „Schmutzkampagne“ inszeniert, ist einfach widerwärtig.

Am allerunerträglichsten ist jedoch, dass es ihm gelingt, politisches Kapital aus dem Skandal zu schlagen. Und da sind wir beim Thema Antisemitismus in Deutschland. Denn sein Verhalten kommt gut an bei seinen Anhängern in Bayern. Der Wahlkampf vor den Landtagswahlen am 8. Oktober geht weiter, als wäre nichts gewesen. Die Zustimmung zu den Freien Wählern hat in der jüngsten Umfrage sogar zugenommen.

Der Vizepräsident des Auschwitz-Komitees, Christoph Heubner, warnt vor dem „politischen Flurschaden“, den Aiwanger mit seinen „egomanischen Redereien“ weiter anfache. Dass Aiwanger behauptete, er solle politisch „vernichtet“ werden, sei für Überlebende des Holocaust eine „unerträgliche“ Formulierung.

In einem Land, das es mit dem #niewieder ernst nehmen würde, hätte jeder einzelne Skandal, der in den vergangenen Tagen über Aiwanger bekannt wurde, zum sofortigen Rücktritt führen müssen. Und wenn der Amtsinhaber sich dem verweigert, hätte Ministerpräsident Söder ihn entlassen müssen. Auch hier Fehlanzeige. Söder hat keine Haltung gezeigt, sondern aus purer Wahltaktik gehandelt. Wie schäbig!


24. August 2023

Abgrenzen und Ausgrenzen

Ursachen des Rechtsrucks und Gegenstrategien

Von Charlotte Langenkamp

Zu kurz greifen die meisten Analysen, in denen händeringend um Erklärungen für den Rechtsruck und die Wahlerfolge der AfD gesucht werden. Aus unserer Perspektive ist das Erstarken des Rechtsextremismus nur durch das Zusammenwirken von drei Ebenen erklärbar: Erstens, die gefühlte oder tatsächliche soziale und politische Benachteiligung von einem großen Teil der deutschen Bevölkerung, zweitens der weiten Verbreitung von Ideologien der Ungleichwertigkeit in der Mitte der Gesellschaft und drittens der problematische Umgang von Politiker*innen und Journalist*innen damit.

Wir erleben eine Gleichzeitigkeit von Krisen und damit verbundener großer, ganz realer sozialer Unsicherheit. Dazu kommt, dass viele Deutsche enttäuscht von der Demokratie sind. Wichtig ist zu betonen, dass gerade in Ostdeutschland die allermeisten Menschen die Idee der Demokratie sehr gut finden. Sie sind aber nicht zufrieden mit der Art und Weise, wie sie sie konkret in ihrem Alltag erleben.

  • Ein nicht unerheblicher Teil der Bevölkerung fühlt sich also sowohl sozial als auch politisch abgehängt. Ob das Gefühl gerechtfertigt ist oder nicht, ist für die Frage der Gegenstrategien zweitrangig.
  • Der Rechtsruck lässt sich aber nur in Verbindung mit Ideologien der Ungleichwertigkeit verstehen. Rassismus, Antisemitismus, Sozialdarwinismus und weitere menschenfeindliche Ideologien sind insbesondere in der Mitte der Gesellschaft weit verbreitet. Das belegen Zahlen aus der Leipziger Autoritarismus Studie: der antisemitischen Aussage „Auch heute noch ist der Einfluss der Juden zu hoch“ stimmen fast ein Drittel der Befragten (29 %) ganz oder teilweiser zu. Die Zahlen zu Rassismus sind noch erschütternder. Die Aussage „Die Ausländer kommen nur her, um den Sozialstaat auszunutzen” lehnt nur ein gutes Fünftel der Befragten (22 %) klar ab. Das heißt im Umkehrschluss, fast 80 % können rassistischen Aussagen zumindest teilweise etwas abgewinnen. Diese Studie ist repräsentativ für die deutsche Bevölkerung!
  • Rassistische, antisemitische und andere menschenfeindliche Einstellungen sind konstant weit verbreitet und das seit vielen Jahrzehnten. Die rechtsextreme AfD produziert diese Einstellungen also nicht selbst, sie trägt aber zur Normalisierung bei. Und sie bietet allen, die so denken, eine neue politische Heimat.

Natürlich versuchen die demokratischen Parteien den Aufschwung der AfD zu verhindern. Durch die Übernahme von rechten Parolen gerade in der Frage der Migrationspolitik verstärken sie den Rechtsruck allerdings. Denn in dem Versuch, Wähler*innen zurückzugewinnen, normalisieren sie menschenfeindliche Parolen und bestärken dadurch Menschen in ihren rassistischen Einstellungen.

Auch Teile der Medien sind mitverantwortlich für den Rechtsruck. Wenn die AfD oder einzelne Akteure im wahrsten Sinne des Wortes „dämonisiert” werden, ist das kontraproduktiv. Rechtsextreme zu dämonisieren, ihnen aber gleichzeitig eine Bühne zu bieten und über die erwartbaren menschenverachtenden Aussagen dann überrascht sein, ist schlechtes journalistisches Handwerk und zudem extrem naiv.

Doch natürlich stehen alle Wähler*innen selbst in der Verantwortung. Es sind bewusste Entscheidungen, eine rechtsextreme Partei zu wählen oder rassistische Ressentiments im eigenen Alltag zu dulden.

Abgrenzen oder Ausgrenzen!

Welche Strategie verspricht Erfolg gegen den Rechtsruck? Die Strategie der Eingrenzung, die auf punktueller Kooperation mit der AfD setzt, ist jedenfalls nicht sinnvoll. Sie trägt zur Normalisierung und damit Stärkung der AfD bei. Dazu zählen Kooperationen auf kommunaler Ebene, die Übernahme einzelner inhaltlicher Positionen als Versuch, Wähler*innen zurückzuholen, oder die Einladung von AfD-Politiker*innen in Talkshows oder Interviewrunden.

Viel wichtiger sind Strategien der Abgrenzung, also auf keiner Ebene irgendeine Kooperation mit der AfD einzugehen. Das ist leicht, wenn man klar benennt, was rechtsextrem ist, was rassistisch oder undemokratisch ist, und dadurch die Abgrenzung immer wieder erklärt. Aber diese Strategie meint nicht den kompletten Ausschluss der AfD. Es geht darum, aktiv die Auseinandersetzung, den Streit zu suchen.

Im Gegensatz dazu wird bei der Strategie der Ausgrenzung die AfD aus dem demokratischen Diskurs vollständig ausgeschlossen, weil sie nicht mehr als legitime Partei anerkannt wird. Das ginge z.B. durch ein Parteiverbotsverfahren.

Wichtig ist, die AfD nicht zu unterschätzen

Die Grenzen zwischen Strategien der Ab- und Ausgrenzung können durchaus fließend sein und für beides gibt es gute Gründe. Wichtig ist, sich keine Illusionen zu machen, die AfD nicht zu unterschätzen und vor allen Dingen, nicht auf eine Selbstentzauberung zu hoffen.

Rechtsextreme wollen keine Sachpolitik machen, auch wenn sie anderes vorgeben. Die Unterwanderung von politischen Institutionen und die Instrumentalisierung von Kommunalpolitik sind Strategien, um die Demokratie auszuhöhlen. Dieses strategische Verhältnis zur Demokratie endet für Rechtsextreme, wenn sie die Macht haben, die Demokratie abzuschaffen. Antidemokraten muss man deshalb das Handwerk legen, auch wenn sie noch mit demokratischen Mitteln hantieren.

Auch jede*r Bürger*in ist in der Pflicht

Bei den Strategien gegen den Rechtsruck sind Politiker*innen aber auch die Zivilgesellschaft in der Verantwortung. Rechtsextreme fühlen sich ermutigt, wenn sie glauben, die Bürger*innen stimmen ihnen heimlich zu.

Mit Rechtsextremen reden bringt wenig, denn sie wollen keine Argumente austauschen. Sie wollen Propaganda verbreiten und mit Parolen zum Hass aufstacheln. Da die Rechtsextremen derzeit immer mehr werden, müssen wir also immer mehr Menschen aus den Diskussionen ausschließen. Das widerspricht eigentlich demokratischen Prinzipien. Diesen Widerspruch müssen wir aushalten. Und  jede*r ist in der Verantwortung, dass Rechtsextreme sich in unserer Nähe nicht wohlfühlen. Wie das geht?

  • Indem wir solidarisch sind mit allen Betroffenen rechter Gewalt und allen Aktiven, die dem Rechtsruck etwas entgegensetzen, vor allem dann, wenn Solidarität und Mut erfordert ist.
  • Indem wir die Widersprüche rechtsextremer Politik immer wieder offenlegen. Rechtsextreme haben kein Interesse an sozialer Politik, an guter Bildung oder Gesundheitsversorgung, an Schutz und Sicherheit. Für die allermeisten Menschen wäre die Politik der AfD zum Nachteil. Die AfD stellt immer die falschen Fragen und gibt immer falsche Antworten. Darauf müssen wir unermüdlich hinweisen, statt auf die Buzzwords der AfD reinzufallen.
  • Indem wir widersprechen, wo immer uns rechtsextreme Parolen begegnen. Das kann jede*r in Argumentationsworkshops lernen.
  • Eingreifen, wenn Leute angegriffen werden, also Zivilcourage zeigen. Auch das kann jede*r in Workshops üben!
  • Das Wichtigste ist, Verbündete zu suchen und nicht allein zu bleiben!

11. August 2023

Das falsche Signal

Viele antisemitische Attacken – aber Mittel für politische Bildung werden gekürzt

Von Sophia Oppermann

Das Niveau der gegen Jüdinnen und Juden gerichteten Attacken bleibt erschreckend hoch. Im ersten Halbjahr 2023 wurden bereits 960 antisemitische Straftaten registriert, 25 davon Gewalttaten. Im vergangenen Jahr war die Zahl in etwa vergleichbar. Diese Zahlen legte das Bundeskriminalamt gerade auf die kleine Anfrage von Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau vor.

Das ist zuallererst für die Betroffenen eine Katastrophe und höchst bedrohlich. In der Öffentlichkeit Hebräisch sprechen, eine Kippa tragen oder einen Davidstern umhängen – all dies überlegen sich Juden und Jüdinnen ganz genau. Denn diese Zeichen ihrer Identität machen sie zu möglichen Zielen eines Angriffs. Und das bedeutet im Umkehrschluss: Jüdinnen und Juden können in Deutschland nicht frei und sicher leben.

Ich muss das vielleicht mehrmals – deutlich – schreiben: Juden und Jüdinnen können in Deutschland im Jahr 2023 nicht frei und sicher leben.

Sie werden bedroht und angegriffen, sie erleben Hass und Hetze im Netz und auf der Straße, in Verschwörungserzählungen werden sie für alle Arten von Unheil verantwortlich gemacht. Sie erhalten Drohbriefe, sie werden angespuckt, beschimpft, gejagt. Und eine rechtsextreme Partei, die in aktuellen Umfragen bei bundesweit rund 20 Prozent liegt, agitiert offen rassistisch und antisemitisch gegen Jüdinnen und Juden und bezeichnet den Holocaust als „Vogelschiss in der deutschen Geschichte“.

Das macht Angst. Das ist emotionaler Stress. Das ist jüdischer Alltag in Deutschland. Viele sagen, sie spielen mit dem Gedanken auszuwandern.

Was kann man dagegen tun, außer den Betroffenen immer wieder solidarisch und schützend zur Seite zu stehen?

Ein wirkungsvolles und anerkanntes Mittel gegen menschenfeindliche Ideologien ist und bleibt – die politische Bildung. Sie befähigt uns durch Aufklärung, Erleben und Kennenlernen mit allen Sinnen die Dinge zu verstehen: in Dialogveranstaltungen, Online Games oder auf Reisen, auf Fachtagungen, im Workshop, oder in einer Ausstellung. Klug, wertschätzend, professionell.

Die Bundeszentrale für politische Bildung (BpB) ist auf diesem Gebiet der Hauptakteur in Deutschland. Und sie macht einen wirklich guten Job. Ausgerechnet hier soll nun für das kommende Jahr kräftig gespart werden: Rund 20 Prozent weniger hat das zuständige Bundesministerium des Inneren (BMI) veranschlagt.

Welche Programme oder Projekte werden dann möglicherweise eingestellt? Vielleicht auch solche, die sich mit Antisemitismus beschäftigen?

Geplante Kürzungen bei politischer Bildung sind ein fatales Signal

Die geplante Mittelkürzung ist in Zeiten, in denen der Verfassungsschutz vor der zunehmenden Demokratie-Feindlichkeit als einer der größten Bedrohungen warnt, eine Bankrotterklärung aus dem BMI.

Denn das Signal, das von dieser Kürzung ausgeht, ist dreifach fatal: Die rechtsextremen Agitatoren- die seit Jahren die Einrichtungen politischer Bildung gezielt diskreditieren – jubeln, die Betroffenen von antisemitischer und rassistischer Gewalt fühlen sich erneut allein gelassen, und den oft ehrenamtlichen Aktiven, die sich in kleinen Vereinen gegen Antisemitismus einsetzen und dafür Unterstützung der BpB erhalten, fehlt das Geld für ihre Arbeit. 


24. Juli 2023

Merz rollt der #noAfD den roten Teppich aus
Grenzen des Sagbaren ausgedehnt – Woher kennen wir die Strategie?

Von Sophia Oppermann

Das Jugendzentrum in Ihrer Stadt soll erneuert werden? Der Wohnungsbau in Ihrem Landkreis braucht eine sozial verträgliche und bezahlbare Strategie? Der Umgang mit Geflüchteten vor Ort soll menschenrechtskonform gestaltet oder ein Gelände für Windkraft ausgewiesen werden? Hach, lächerlicher Kinderkram!

Für Friedrich Merz, den Parteivorsitzenden der CDU, sind diese Dinge offensichtlich minderwichtige politische Entscheidungen, die man auch locker mit der #noAfD zusammen umsetzen kann: „Wenn dort ein Landrat, ein Bürgermeister gewählt wird, der der AfD angehört, ist es selbstverständlich, dass man dann nach Wegen sucht, wie man dann in dieser Stadt weiter gemeinsam arbeiten kann,“ so Merz im ZDF-Sommerinterview vom 23. Juli 2023.

Bisher galt eine andere Strategie, und zwar eine, die auf dem CDU-Parteitag gemeinsam beschlossen wurde. Die CDU hat eine Zusammenarbeit mit der #noAfD auf allen Ebenen ausgeschlossen. Die Rede ist von einer Brandmauer gegen Rechts – die der Parteivorsitzende selbst nun ins Wanken bringt.

Merz macht der #noAfD den Hof

Merz hat der #noAfD im ZDF-Interview den Hof gemacht und ihr den roten Teppich ausgerollt. Mit diesem bewussten Flirt mit den Rechtsextremen spuckt er all jenen ins Gesicht, die sich aus Sorge um unsere Demokratie, unsere Freiheit und um die Menschenrechte in diesem Land seit Jahren um eine konstruktive und inhaltliche Abgrenzung gegen Rechts bemühen. Und er entzieht den Betroffenen von rechtsextremer Agitation und Gewalt mit seinen Einlassungen zur #noAfD die Solidarität und den Schutz, den sie dringend brauchen. Das sind beispielsweise Homosexuelle, Geflüchtete, Frauen oder Klimaaktivist*innen.

Merz wertet kommunalpolitisches Handeln arrogant ab

Gleichzeitig wertet Merz kommunalpolitisches Handeln mit einer bundespolitischen Arroganz ab, die ihresgleichen sucht. Denn die Demokratie muss sich zuallererst und täglich neu auf lokaler Ebene bewähren. Hier finden die wichtigen Entscheidungen statt, die Menschen unmittelbar betreffen. Kommunalpolitik ist Basis und Wurzel der Demokratie, nicht irgendeine unwichtige Nebensache. Demokratische Politiker*innen kämpfen auf lokaler Ebene täglich mit den Auswirkungen des gesellschaftlichen Rechtsrucks: ihre Scheiben in Wahlreisbüros oder von Privathäusern werden eingeworfen, ihre Kinder werden bedroht und sie selbst auf offener Straße angegriffen und beleidigt.

Es ist gerade mal vier Jahre her, dass ein Landrat der CDU in Hessen, Walter Lübcke, von einem Rechtsextremen erschossen wurde, weil er mit dessen Politik gegenüber Geflüchteten nicht einverstanden war.

Kommunalpolitik ist verdammt wichtig für die Brandmauer gegen Rechts, Herr Merz!

Mit einer Partei, die vom Verfassungsschutz als „in Teilen gesichert rechtsextrem“ eingestuft wird, die die NS-Zeit als „Vogelschiss“ in der deutschen Geschichte bezeichnet und deren Führungskader Höcke straffrei als Faschist bezeichnet werden darf, kann es keinerlei Zusammenarbeit geben. Egal, ob im Ortsbeirat oder im Bundestag. Von einer Relativierung und Verharmlosung der politischen Agenda der #noAfD profitieren einzig die Rechtsextremen. Deren Ziel ist es, ihre menschenfeindliche Politik gerade auch durch vereinzelte Zusammenarbeit mit anderen Parteien zu normalisieren und damit salonfähig zu machen.

Es ist eigentlich nicht so schwer zu verstehen: Antidemokrat*innen müssen mit demokratischen Mitteln bekämpft werden, und nicht, indem man mit ihnen gemeinsame Sache macht.

Merz handelt sich auch aus der Union Widerspruch ein – Lob nur von der #noAfD

Merz hat sich mit seinem Tabu-Bruch nun zu Recht harten Widerspruch einhandelt. Und zwar von allen Seiten und aus allen demokratischen Parteien, inklusive seiner eigenen. Glücklicherweise gibt es bei der CDU genügend kluge Menschen, die ihrem Vorsitzenden die Offerte gegenüber der #noAfD nicht durchgehen lassen.

Merz ist bereits zurückgerudert. Er bedient sich – ob bewusst oder unbewusst – einer Strategie der #noAfD, die wir alle kennen: die Grenzen des Sagbaren weiter ausdehnen. Mal sehen, was an Widerstand kommt. Im Zweifelsfall ein bisschen abschwächen, aber schon mal den Punkt klarmachen, wo es langgehen könnte.
Der Parteivorsitzende der CDU erhält für seinen Tabubruch aus der #noAfD prompt den vergifteten Applaus, der ihm zusteht.


20. Juli 2023

Zivilcourage muss belohnt werden
Wir brauchen sie für eine starke Demokratie

Von Rebecca Weis

In Burg in Brandenburg haben kürzlich zwei Lehrer*innen auf eklatante Missstände an ihrer Schule aufmerksam gemacht: rechtsextreme Vorfälle, Sexismus und Homophobie im Schulalltag, eine Stimmung von Angst und Beklemmung bei denen, die sich dagegenstellen. Nun verlassen die beiden Lehrkräfte die Schule, ja den Ort, wegen Anfeindungen und Bedrohungen.

Das macht mich wütend und traurig! Gesicht Zeigen! engagiert sich seit mehr als 20 Jahren mit Projekten an Schulen. Schulen sind die wichtigsten Einrichtungen, um zu vermitteln, was es heißt, in einer offenen demokratischen Gesellschaft zu leben. Menschenrechte, Gleichberechtigung, das Aushalten von Differenzen und Widersprüchen, die Auseinandersetzung mit unserer Geschichte und die Grundlagen unseres demokratischen Miteinanders sollen dort gelernt werden. Ja, und auch dort ist es wichtig, eine klare und engagierte Haltung zu zeigen. Aber das erfordert großen Mut und kann gefährlich werden.  Denn die Einschüchterung von Andersdenkenden und missliebigen politischen Gegnern ist eine bekannte Strategie von Rechten. Das weiß jede*r!

Und die Versuche der AfD direkt an Schulen kritische Diskussion zu unterbinden, sind seit dem sogenannten „Lehrerpranger“ allseits bekannt. Die AfD hatte in verschiedenen Bundesländern unter dem Titel „neutrale Schule“ Online-Meldeplattformen eingerichtet, auf denen Schüler*innen und Eltern AfD kritische Lehrkräfte melden sollten. Sie berief sich dabei auf das Neutralitätsgebot. Im Wesentlichen ging es aber darum, kritische Äußerungen zur AfD zu unterbinden und Lehrkräfte öffentlich an den Pranger zu stellen, einzuschüchtern und mundtot zu machen. (Ich will hier nicht den Themenkomplex Beutelsbacher Konsens und Neutralitätsgebot aufmachen, aber hier sind Hintergrundinfos dazu.)

Wenn also diese beiden mutigen und engagierten Lehrer*innen aus Burg sich outen und öffentlich gegen den vorherrschenden Rechtsextremismus stellen, dann ist eines total klar: Sie dürfen nicht allein gelassen werden. Sie brauchen jede Unterstützung.

In ihrem Brandbrief haben sie die Leerstellen klar benannt: Es braucht Anlaufstellen für die Lehrer*innen und Schüler*innen, Beratung für Schulen und Kollegien, eine Task-Force, die an die betreffenden Schulen kommt– und zwar schnell. Notwendig sind Unterstützung und Rückendeckung durch die Politik vor Ort sowie Solidarität und Schutz. Vieles davon ist passiert, aber dennoch reicht es nicht aus.

Engagierte verstummen, weil Rechtsextreme sie bedrohen

Die beiden verlassen nun ihre Schule und hinterlassen eine Lücke, auch als Rückenhalt für engagierte Schüler*innen. Sie reihen sich ein in eine immer länger werdende Liste von Menschen, die sich zurückziehen, weil sie von Rechtsextremen bedroht werden. In der Kommunalpolitik beobachten wir das schon länger. Die Bürgermeister*innen Arnd Focke, Martina Angermann und Markus Nierth haben sich aus der Politik zurückgezogen, weil sie sich und ihre Angehörigen schützen wollten.  Für eine Studie des BKA  werden in regelmäßigen Abständen Mandatsträger*innen in der Kommunalpolitik zu Anfeindungen, Bedrohungen und deren Auswirkungen befragt. Demnach leiden 81% der Betroffenen unter psychischen und physischen Folgen aufgrund erlebter Bedrohungen, 7% erwägen die Mandatsniederlegung, weitere 7% schließen eine erneute Kandidatur aus.

Das ist alarmierend! Da verschwinden Stimmen aus dem Diskurs. Menschen ziehen sich zurück und verstummen. Am Ende genau die, die wir brauchen, für eine offene und starke Demokratie. Dass die verteidigt werden muss, ist so offensichtlich wie nie. Die Umfragewerte der AfD zeigen das deutlich.

Jetzt liegen viele Forderungen auf dem Tisch: mehr Zuständigkeiten, früheres Eingreifen der Schulämter, mehr Beratungsangebote. Viele Politiker*innen melden sich zu Wort und zeigen sich besorgt: vom Ministerpräsidenten, über die Bundesministerin für Forschung und Bildung, von Wirtschaftsverbänden und Gewerkschaften bis hin zum Bundespräsidenten: alle betonen, wie wichtig es ist, unsere Demokratie zu verteidigen. Doch offenbar gelingt es uns nicht, Menschen, die das tun und in den Fokus von Rechtsextremen geraten, ausreichend zu unterstützen und zu schützen. Das ist furchtbar und beschämend! Und damit das klar ist: Ich verstehe jede*n, der/die sich aufgrund von persönlichen Anfeindungen und Drohungen zurückzieht.

Doch das können wir nicht wollen. Wie gelingt uns eine langfristige und solidarische Unterstützung von Engagierten? Wie können wir Menschen ermutigen und stärken? Der Kampf gegen Rechtsextremismus ist kein Feuerwehreinsatz, der nur ab und an nötig ist, wenn es gerade mal wieder irgendwo brennt. Er muss täglich und überall geführt werden.

Wir brauchen verlässliche Strukturen und einen langen Atem

Praktiker*innen und Initiativen wie wir sagen das schon lange. Wir brauchen starke und verlässliche Strukturen, mehr Anlaufstellen, Weiter- und Fortbildungen, solidarische Unterstützung von Betroffenen, eine sensibilisierte Polizei, langfristige und etablierte Projekte, nachhaltige Förderung …… und einen langen, langen Atem. Das scheint vielen nicht klar zu sein. Demokratie-Projekte werden offenbar immer wieder als nettes Gimmick gesehen. Warum hören wir jetzt schon wieder, in Zeiten knapper Kassen, dass ausgerechnet bei der Jugendarbeit gekürzt werden soll? Warum müssen Projekte wie wir ständig um Geld und Unterstützung kämpfen? Wo bleibt denn das Demokratiefördergesetz, das langfristige Finanzierungen überhaupt erst möglich macht?

All das kostet – doch das sollte uns unsere Demokratie allemal wert sein. Lippenbekenntnisse reichen nicht aus. Sonst wird es bald wirklich sehr stumm und dunkel in Deutschland.


28. Juni 2023

„Ich bin wütend“
Schock überwinden und Zivilgesellschaft in Thüringen unterstützen

Von Sarah Schwahn

Am Sonntag wurde in Deutschland der erste AfD-Landrat gewählt. Und auch wenn das nicht überraschen kann, bin ich wütend und frage mich: Was ist los mit uns (Süd-)Thüringer*innen?

Vorab: Es ist nicht so, dass eine vermeintliche Brandmauer erst mit dieser Wahl eingerissen wurde. In Thüringen funktioniert die Zusammenarbeit mit der AfD an einigen Stellen schon lange bestens. Und Politik und Zivilgesellschaft stehen auch dort unter hohem Druck, wo die AfD (noch) keinen Landrat stellt.

Ich bin wütend, und zwar auf alle Parteien. Nicht nur, dass die Junge Union dem Wahlsieger der AfD umgehend gratuliert und auf Zusammenarbeit jenseits von „Ideologie und Wahlkampfrhetorik“ hofft. Die Jugendorganisation der CDU ist mittlerweile zurückgerudert, aber der schnelle Tweet zeigt: Man möchte sich von einer in Thüringen als „erwiesen rechtsextrem“ eingestuften Partei erst einmal anhören, was sie zu sagen hat, vielleicht entspricht es ja den eigenen Positionen. Und ich bin wütend auf alle anderen demokratischen Parteien, die daran beteiligt sind, dass sich politische Diskurse meilenweit nach rechts verschieben, sei es durch rassistische Asylpolitik oder politische Stimmungsmache gegen jede Art von Klimapolitik.

Ich bin wütend auf die Wähler*innen. Teilen wir nicht eine gemeinsame Geschichte von gleich zwei totalitären Diktaturen – die jüngste ist noch so frisch, dass viele sie noch selbst erlebt haben? Für mich ist sie präsent, in meiner Familiengeschichte, im nicht enden wollenden Gespräch mit ostdeutsch sozialisierten Freund*innen, in Erzählungen von Menschen, die für ihre Freiheit ins Gefängnis gingen, politisch verfolgt und bespitzelt wurden. Und genau deshalb kann ich sie nicht akzeptieren, die Mär von den zurückgelassenen Ostdeutschen, die aus Protest rechts wählen. Denn mit der AfD wählen sie eine Partei, die für ein autoritäres System wirbt. Ich will und kämpfe für eine bessere Sichtbarkeit und Repräsentation von Menschen aus Ostdeutschland. Dazu gehört auch eine gesamtdeutsche Debatte über Transformations- und Diskriminierungserfahrungen – aber die AfD ist doch wirklich die letzte Partei, die hierfür qualifiziert ist!?

Und letztlich bin ich wütend auf genau diese Erzählung über eine hilflose Wählerschaft, die irgendwo abgehängt wurde und nicht so richtig weiß, was sie da eigentlich tut. Das ist falsch. Und es ist gefährlich. Wenn der Paternalismus gegenüber Ostdeutschen enden soll, dann sollte damit begonnen werden, die Wahlentscheidungen der Menschen ernst zu nehmen und beim Namen zu nennen: rechtsextrem, menschenfeindlich, antidemokratisch. Ich lese auf Twitter und in vielen Kommentaren, dass dieses Wahlergebnis der CDU (und anderen Parteien) zu denken geben sollte. Aber worüber? Die Leute wählen das Original, und ob sie nun aus Protest oder Überzeugung eine rechtsextreme Partei wählen – mir will diese Unterscheidung nicht ganz klar sein.

Die AfD sieht sich auf einem Siegeszug durch die ostdeutschen Länder und die Bundespolitik. Die aktuellen Zahlen geben ihr recht: In Thüringen, Sachsen und Brandenburg liegt sie vorn, im Bund gleichauf mit SPD und Grünen. Der Wahlsieg im kleinen Sonneberg ist die beste Ausgangslage für ihren fortgesetzten Angriff auf die Demokratie. Die AfD fühlt sich bestätigt: Je radikaler, desto besser. Sie wird mit großem Schwung in den Wahlkampf gehen.

Wut lähmt, deshalb will ich nicht nur wütend sein

Allerdings gibt es nichts, das mehr lähmt als Wut, und deshalb will ich nicht nur wütend sein. Ich will mich nicht abarbeiten an den Wähler*innen der AfD. Aber woran dann?

Ja, man sollte die Ostdeutschen ernstnehmen, aber nicht, indem man die herbeifantasierten Ängste und Sorgen der AfD-Wählerschaft verklärt. Diese „Ängste“ speisen sich aus rechtsextremer Hetze, Menschenfeindlichkeit und einer Zersetzung demokratischer Freiheiten. Wer die AfD wählt, tut dies meiner Ansicht nach nicht trotz, sondern gerade wegen dieser Elemente. Auch wenn es die AfD geschafft hat, eine für viele Menschen in Ostdeutschland schmerzhafte Transformationserfahrung für die eigenen Zwecke umzudeuten, weiß ihre Wählerschaft genau, was sie tut.

Die Betroffenen von Menschenfeindlichkeit brauchen unsere Unterstützung

Wer hingegen unsere ganze Aufmerksamkeit braucht, ist die Zivilgesellschaft vor Ort und diejenigen, die von Menschenfeindlichkeit betroffen sind – rassifizierte Personen, Geflüchtete, Queers. Sie alle arbeiten und leben unter Einsatz der eigenen Sicherheit, der ihrer Familie und Freund*innen. Demokrat*innen, die sich an vielen Orten des täglichen Lebens, sei es auf Dorffesten, in der Kita, am Arbeitsplatz, offen gegen den alltäglichen Hass in Südthüringen stellen, Lokalpolitiker*innen, die unermüdlich rechte Hetze aushalten und dagegen angehen. Das sind die Menschen, die wir als bundesweit organisierte Zivilgesellschaft unterstützen müssen, anstatt sie unsichtbar zu machen in unserem Schock über die Erfolge der AfD.

Die Autorin kommt aus dem Bundestagswahlkreis, in dem Sonneberg liegt. Sie arbeitet bei Gesicht Zeigen! als Referentin im Bereich Rechtsextremismusprävention.


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