Sehr geehrte Frau Finanzministerin,
Sehr geehrter Herr Finanzminister,
Sehr geehrter Herr Finanzsenator,
wir wenden uns an Sie, um der Besorgnis und Verunsicherung Ausdruck zu geben, die sich seit den Aberkennungen der Gemeinnützigkeit politisch aktiver Organisationen im Nachgang des Attac-Urteils in unseren Reihen breitmachen.
Wir, das sind über 70 Trägervereine, Initiativen und Organisationen, in denen sich Engagierte zusammenfinden, die für Demokratie, Grund- und Menschenrechte einstehen. Unser Einsatz gegen Hass und Menschenfeindlichkeit, gegen Rassismus, Antisemitismus und andere Formen von Diskriminierung ist leider zunehmend von Angriffen der extremen Rechten begleitet.
Das Ausbleiben weiterer Aberkennungen der Gemeinnützigkeit aufgrund kulanter Auslegungen der Abgabenordnung durch die Finanzbehörden nehmen wir dankbar zur Kenntnis. Wir befürchten aber, dass ohne eine starke und werteorientierte Gesetzesreform unser Problem nur aufgeschoben wird. In dieser Situation haben Sie es mit einer Reform des Gemeinnützigkeitsrechts in der Hand, wichtige Demokratiearbeit dort zu schützen und zu unterstützen, wo sie am nötigsten gebraucht wird, und den Aktiven vor Ort die Sorge vor der existenziellen Bedrohung zu nehmen, die für sie der Verlust der Gemeinnützigkeit darstellt.
Shrinking Spaces – Zivilgesellschaft in Bedrängnis
In unserer Arbeit verteidigen wir Demokratie und Grundgesetz dort, wo sie angegriffen werden. Wir setzen Anreize für demokratisches Engagement und geben ihm einen Rahmen. Wir leisten politische Bildungsarbeit, vermitteln demokratische Werte und Kultur und übernehmen so einen zentralen Beitrag zur Prävention von Menschen- und Demokratiefeindlichkeit. Dies alles tun wir selbstlos und mit Blick auf das Gemeinwohl.
Eine lebendige, vielfältige und eigenständige Zivilgesellschaft ist ein zentrales Merkmal unseres demokratischen Systems – wird ihre Rolle in Frage gestellt und werden ihre Akteure angegriffen, muss das allen Demokratinnen und Demokraten sehr zu denken geben. Zivilgesellschaftliche Organisationen werden von einer immer wirkmächtigeren rechtsalternativen und rechtsextremen Gegenöffentlichkeit im Internet diskreditiert, systematisch delegitimiert und kriminalisiert. Verleumdungen und Hetze werden umso problematischer, weil sie von Anfragen, Anträgen und Gesetzentwürfen begleitet werden, die immer stärkere Fraktionen der AfD in Kommunal- und Landesparlamente einbringen. In einem solchen gesellschaftlichen Klima sinken Hemmschwellen, Engagierte persönlich anzugreifen, etwa in konzertierten Shitstorms oder Drohmails. Rechtsextreme Gewalttäter fühlen sich ermutigt und greifen Projekte und Mitarbeitende mit Stein- und Farbbeutelwürfen an, zünden Autos an und schrecken auch vor Gewalt gegen Personen nicht zurück. Der Kreis der Betroffenen ist so vielfältig wie der dritte Sektor selbst und reicht von den großen Wohlfahrtsverbänden bis hin zu lokalen Initiativen gegen Rechtsextremismus. Klar ist allerdings auch, dass es gerade kleinere Akteure im ländlichen Raum sind, die besonders unter den Angriffen leiden: wo Ressourcen und Personal knapp sind, und wo Aktive sehr viel persönlicher für ihre Projekte einstehen müssen, kosten die Reaktion auf Anfeindungen und die Notwendigkeit, eigene Sicherheitskonzepte zu überdenken, Energie und Nerven und entmutigen.
Zivilgesellschaft ist gemeinnützig – und muss es bleiben
In dieser Situation stellt die Sorge um den Entzug der Gemeinnützigkeit einen Punkt unter vielen dar, der in einer angespannten Situation unsere Arbeit belastet – gleichzeitig bedroht uns eine Aberkennung des Status aber in unserer Existenz. Denn außer Steuervorteilen und Anreizen für Spenderinnen und Spender sind mit der Gemeinnützigkeit auch Zugänge zu öffentlichen und privaten Fördermitteln verknüpft. Fehlende Rechtssicherheit und bisher nicht gesetzlich verankerter Vertrauensschutz für die Weitergabe von Fördermitteln könnten in Zukunft unbequeme, sich politisch äußernde Träger in der Förderpraxis benachteiligen.
Staatliche Stellen, andere Organisationen, Öffentlichkeitsarbeit und Privatperson nehmen den Status über seine finanzrechtliche Bedeutung hinaus als Gütesiegel wahr. So ist auch der Zugang zu Räumen für Veranstaltungen und zu Genehmigungen für Infostände im öffentlichen Raum oft mit der Gemeinnützigkeit verknüpft.
Noch weit unter der Schwelle der Aberkennung der Gemeinnützigkeit und Auseinandersetzungen vor Gericht sorgt das Thema für weitere Verunsicherung und Vorsicht unter zivilgesellschaftlichen Organisationen und Initiativen, die ihre gemeinnützigen Zwecke auch mit politischen Mitteln verfolgen wollen. Träger politischer Bildung wünschen sich Sicherheit, dass ihre an demokratischen Werten, Grund- und Menschenrechten orientierte Arbeit den im Attac-Urteil geforderten, aber nicht definierten Grundsatz der „geistigen Offenheit“ nicht verletzt. In diesem Sinne ist es für unsere Arbeit weiterhin unerlässlich, Angehörige rechtsextremer Parteien oder Organisationen oder Menschen, die bereits in der Vergangenheit durch menschenfeindliche Äußerungen aufgefallen sind, von Veranstaltungen ausschließen zu können.
Vorschläge für ein Gemeinnützigkeitsrecht auf Höhe der Zeit
Das zentrale Recht der Zivilgesellschaft ist das Gemeinnützigkeitsrecht und fällt damit in Ihr Ressort. Es liegt deshalb also in Ihrer Hand, ein deutliches Signal für eine starke, diverse und selbstbestimmte Zivilgesellschaft zu setzen. Die angekündigte Reform des Gemeinnützigkeitsrechts muss das Problem fehlender Rechtssicherheit für zivilgesellschaftliche Organisationen dringend beheben. Dazu bedarf es…
… einer Ergänzung der Liste gemeinnütziger Zwecke in § 52 Absatz 2 der Abgabenordnung, um die Betätigungsfelder gemeinnütziger zivilgesellschaftlicher Organisationen zeitgemäß abzubilden. Beispiele wären etwa Demokratiearbeit; Einsatz gegen Rassismus, Antisemitismus und andere Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit; Förderung der Menschenrechte und Grundrechte, des Friedens, des Klimaschutzes, der sozialen Gerechtigkeit, der informationellen Selbstbestimmung und der Förderung von geschlechtlicher und sexueller Vielfalt. Zusätzlich sollte in Absatz 1 aufgenommen werden, dass gemeinnützig auch ist, was die Allgemeinheit auf demokratischem Gebiet fördert (neben materiellem, geistigem oder sittlichem Gebiet).
… einer Ermöglichung demokratischen Engagements gemeinnütziger Organisationen über ihre eigenen Satzungszwecke hinaus. Organisationen müssen sich bei Gelegenheit auch für andere, nicht in ihrer Satzung festgeschriebenen gemeinnützige Zwecke engagieren können, ohne das Ausschließlichkeits-Prinzip zu verletzen. Dazu ist eine weitere Ausnahme in § 58 nötig.
… einer Klarstellung, dass gemeinnützige Zwecke auch mit politischen Mitteln verfolgt werden dürfen. Dies könnte durch einen neuen Absatz in § 51 oder 52 geschehen, der klarstellt, dass zu den Mitteln zur Verfolgung der Satzungszwecke im Rahmen allgemeiner Gesetze auch die Einwirkung auf die politische Willensbildung, auf die öffentliche Meinung, auf politische Parteien und staatliche Entscheidungen gehören.
… der Streichung der Verfahrensregel in § 51 Absatz 3 Satz 2, die bei der Erwähnung gemeinnütziger Organisationen in einem Verfassungsschutzbericht die Beweislast für einen Verstoß gegen Gemeinnützigkeits-Regeln umkehrt. Der Beweis, nicht verfassungsfeindlich zu sein, ist gerade für kleinere Organisationen kaum oder nur unter enormem Ressourcenaufwand zu erbringen. Der Verfassungsschutz hingegen muss die Behauptungen und Folgerungen in seinen Berichten nicht belegen. Beibehalten möchten wir die Anforderung an Gemeinnützige, sich an die Verfassung zu halten. Damit können Rechtsextreme aus der Gemeinnützigkeit ausgeschlossen werden – wenn die Verfassungsfeindlichkeit bewiesen wird.
… einer Präzisierung des Grundsatzes der „geistigen Offenheit“, in der sich politische Bildung zu vollziehen habe. Politische Bildung ist nicht wertneutral, sondern soll sich im Sinne einer streitbaren Demokratie an demokratischen Werten und Grundrechten orientieren. Die Möglichkeit, Personen, die rechtsextremen Parteien oder Organisationen angehören, der rechtsextremen Szene zuzuordnen sind oder bereits in der Vergangenheit durch rassistische, nationalistische, antisemitische oder sonstige menschenverachtende Äußerungen in Erscheinung getreten sind, von Veranstaltungen auszuschließen, muss gewährt werden.
Für die laufenden Bemühungen, diese und weitere Probleme im Gemeinnützigkeitsrecht anzugehen, sind wir Ihnen dankbar und möchten Sie und Ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter darin bestärken, dem Prozess zu einem erfolgreichen Abschluss zu verhelfen und mit einer umfassenden Reform Rechtssicherheit für eine politisch aktive Zivilgesellschaft zu schaffen.
Hier finden Sie den Brief mit einer Liste aller Unterzeichner*innen.
Zum Hintergrund:
Seit dem Urteil des Bundesfinanzhofes zur Aberkennungen der Gemeinnützigkeit von Attac aus dem Januar 2019 und den folgenden Aberkennungen des Jugendzentrums DemoZ in Ludwigsburg (Baden-Württemberg), Campact oder der VVN-BdA ist die Verunsicherung unter Vereinen und Initiativen, die sich gegen Rechtsextremismus und Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit engagieren, groß. Im Kern geht es um die Frage, wie sehr sich gemeinnützige Organisationen auch politisch engagieren dürfen, ohne den Verlust ihrer Gemeinnützigkeit zu riskieren. Seit langem nutzen auch rechtsradikale Akteure in und außerhalb der Parlamente das Thema Gemeinnützigkeit, um unliebsame Demokratieprojekte anzugreifen und zu delegitimieren. Umso wichtiger wäre es, von Gesetzgeberseite für Rechtssicherheit zu sorgen. Doch der für Ende 2019 angekündigte Entwurf einer Reform des Gemeinnützigkeitsrechts wurde zunächst zurückgezogen und lässt seitdem auf sich warten.
Wir dokumentieren hier einen Brief, mit dem sich bereits im Juni 2020 auf Initiative der Amadeu Antonio Stiftung, des Bundesverbands Mobile Beratung (BMB) und des Verbands der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt (VBRG) über 70 Organisationen, Initiativen und Einzelpersonen an die Finanzministerien von Bund und Ländern gewandt haben. Zusammen wollen wir deutlich machen, in welche existenziellen Sorgen uns und zahllose andere Organisationen die fehlende Rechtssicherheit für unsere Arbeit bringt. Antworten kamen nur aus vereinzelten Ministerien, und sie waren vor allem beschwichtigender Natur – teilweise wurde gar geleugnet, dass überhaupt ein Problem besteht.
Nun scheint die Diskussion um die Gemeinnützigkeit politisch aktiver Organisationen Eingang in das Jahressteuergesetz zu finden, das in der Sitzungswoche ab dem 16. November im Bundestag diskutiert und verabschiedet wird.
Die Fraktionen haben jetzt die Chance, zivilgesellschaftliche Arbeit gegen Rechtsextremismus und Menschenfeindlichkeit nachhaltig zu stärken und abzusichern, indem sie die im Brief formulierten Forderungen ins Jahressteuergesetz aufnehmen. In der Hoffnung, dass unsere Sorgen doch noch ernstgenommen und gehört werden, veröffentlichen wir unseren Brief und bitten um Unterstützung und Verbreitung seiner Inhalte. Wenden Sie sich an Ihre Bundestagsabgeordneten; sollten Sie Kontakte in die Regierungsfraktionen, -parteien oder Ministerien haben, nutzen Sie diese und machen Sie deutlich, dass es jetzt höchste Zeit ist, dem demokratischen Engagement gegen Rechtsextremismus, Diskriminierung und für Demokratie endlich mit einer Reform des Gemeinnützigkeitsrechts Rechtssicherheit zu verschaffen!