Die gefährdete Demokratie – Rede zur Eröffnung 100 Jahre Revolution von Uwe-Karsten Heye

Die gefährdete Demokratie – Rede zur Eröffnung 100 Jahre Revolution – Berlin 1918/19
Uwe-Karsten Heye

Die Befürchtung wächst, dass die Demokratie in Deutschland wieder einmal gefährdet ist.

Die Attraktivität der Volksparteien schmilzt wie die Arktis in Zeiten des Klimawandels. Die jeweils Großen Koalitionen werden immer kleiner. Dafür ist der rechte Rand der Gesellschaft auf dem Weg in Richtung Mitte. Die historischen Jahrestage – nicht nur der Multi-Erinnerungstag 9. November – sind  daher auch ein Appell, die jüngere deutsche Geschichte erneut zu besichtigen und ihren Anteil auch an dem Rechtsruck der Gegenwart zu messen.

Ich zitiere: „Die jetzige Krise der Demokratie ist gekennzeichnet durch die Unterwanderung des demokratischen Systems mit antidemokratischen Tendenzen und Bewusstseinsinhalten.“
So der verstorbene Politologe Kurt Sontheimer im Jahr 1968, genau 50 Jahre nach der Novemberrevolution von 1918. Sontheimer beschrieb die Situation, mit der sich die Bundesrepublik West damals konfrontiert sah, die NPD, die erstmals 1965 an den Bundestagswahlen teilnahm, und zunehmenden Erfolg verbuchen konnte.

Die Lage hat sich damit  eigentlich nicht grundlegend verändert. Für die alte Bundesrepublik schwankte der für rechte Parteien ansprechbare Wähleranteil zwischen 15 bis 20 Prozent. Daran hat sich im Vergleich auch nach dem Fall der Mauer 1989 und der Wiedervereinigung nichts geändert. Heute allerdings profitiert der rechte Rand von einem Echoraum im digitalen Netz, der ihr zu erheblicher Lautstärke verhilft. Was dort gesagt und geschrieben wird, ist oft dem Vokabular neonazistischer oder rechtsextremistischer Prägung entlehnt. Fake News, Hatespeech: so heißt das Phänomen heute.

Mit 92 Abgeordneten zog die AfD in den Bundestag ein, gewählt von über 12 Prozent der Wahlberechtigten, überwiegend von Männern.  Die AfD hat zehn Frauen in ihrer Fraktion, und ist größte Oppositionspartei im Bundestag Seid ihrem Einzug ins Bundesparlament hat sich das Klima auch dort deutlich verändert. Von den Bänken rechtsaußen eine Tonlage kälter, schärfer, respektloser. Mit den Abgeordneten zogen ein paar hundert parlamentarische Mitarbeiter in die Bundestags- und in die Wahlkreisbüros, die das ihre dazu tun. Nicht wenige von ihnen stehen in enger Fühlung mit rechtsextremen Gruppierungen und treten auch so auf. Es tut sich also einiges auf den Bänken der Opposition, auf denen die neue Rechte Platz genommen hat.
Nicht zu vergessen: Die AfD ist nun auch in allen sechzehn Länderparlamenten vertreten und versucht dort, die Landtage und Landesregierungen mit Anträgen, Kleinen und Großen Anfragen nach Kräften zu behindern. AfD-Abgeordnete aller Parlamente drängen entschlossen in die Gremien. Jahrelang wurde die Wiederkunft rechter Ideologien auch in Europa unterschätzt. Sie hatte Deutschland allerdings schon vor Brasilien, den USA, Ungarn oder Polen erreicht. Ich erinnere an die 180 Opfer rechter Gewalt nur in Deutschland seid dem Mauerfall.

Heute erinnern wir an die Novemberrevolution 1918/19 und daran, dass vor genau 100 Jahren der Erste Weltkrieg beendet wurde. 11.11.1919: Der Krieg ist aus! Der Kaiser hat abgedankt, die Republik wird ausgerufen.. Ein wirklich guter Grund zu feiern! Diese erste demokratische Republik war allerdings von kurzer Dauer, schon wegen des Mangels an überzeugten Demokraten. Auch gelang es nicht, Deutschland in eine europäische Nachkriegsordnung einzubinden.1933 stimmte dann allein die sozialdemokratische Fraktion gegen die Machtübergabe an den braunen Terrorstaat, der dann folgte. Dennoch: Wir verdanken der Revolution 1918/19 die Errungenschaften, ohne die keine Demokratie existieren kann. Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit, geheime und freie Wahlen endlich auch für Frauen – demokratische Grundrechte eben, die Grundlagen für den Rechts- und Verfassungsstaat. Daran konnte nach der nächsten tiefgreifenden Verirrung der Nazizeit und nach dem Desaster des Zweiten Weltkrieges 1945 endlich angeknüpft werden.

1949 dann die Teilung Deutschlands in  zwei „Republiken“.. Die eine – die DDR – verstand sich als legitime Nachfolgerin der Räterepublik  und war doch eher die Diktatur des Proletariats.. Die andere – die Bundesrepublik Deutschland  — brauchte lange, bis sie mehr war als eine von Heimatfilmen besonnte postfaschistische Gesellschaft: Konservativ und vielfach völlig uneinsichtig auf die zwölf Hitlerjahre zurückzublickend. Die epochale Studie von Alexander und Margarete Mitscherlich über Nachkriegsdeutschlands „Unfähigkeit zu trauern“ brachte es auf den Punkt. Dazu kam die mangelnde Wertschätzung für die geschenkte Demokratie.
Keine Revolution war es, aber eine Revolte der Nachkriegsgeneration, die um 1968 den gesellschaftlichen Diskurs in der Bundesrepublik änderte, vor der Kulisse der Proteste gegen den Vietnamkrieg und dem Pazifismus der Blumenkinder in den USA, Willy Brandts Kniefall in Warschau vor dem Mahnmal für die Toten des Aufstandes im jüdischen Ghetto, das waren auch Zeichen für einen demokratischen  Neuanfang und für das Ende der Nachkriegszeit. Es galt, Demokratie zu wagen. Und heute gilt es, die Demokratie zu wahren und zu verteidigen und dem „Nie wieder“ Statur zu geben — und eben nicht zu vergessen, was dieses Land an den Rand seiner Existenz gebracht hat. Erneut gilt es, den Hass in der Gesellschaft zurückzuweisen und der kalten Abwehr gegen Flüchtlinge zu widerstehen. Es gilt, Verantwortung zu übernehmen für den Schutz der  Umwelt und die ökologische Überforderung des Planeten und in der Folge fast 70 Millionen Flüchtlinge weltweit, durch Kriege und religiös drapierten Terror und den Klimawandel.  Es braucht solidarische und mutige Politik..

Ich bin dennoch nicht pessimistisch.

In Berlin demonstrierten 240.000 Menschen für die offene Gesellschaft, die „unteilbar“ sei. Nach Chemnitz kamen 65.000 mit der sicheren Überzeugung „Wir sind mehr“. In Hambach freuten sich 55.000 Menschen über einen klugen Richterspruch. Und in München gehen Tausende auf die Straße, um den Rechtsstaat gegen ein überzogenes Polizeigesetz zu verteidigen. Es lohnt also, Gesicht zu zeigen und klare Haltung. Der gleichnamige Verein, den ich zusammen mit dem damaligen Präsidenten des Zentralrats der Juden Paul Spiegel vor 18 Jahren gegründet habe, ist nun volljährig. Wir und viele andere Initiativen wollen beitragen,  die Zivilgesellschaft im  Kampf gegen Rechts zu stärken. Bei Interesse schauen Sie auf die Seite im Netz „gesichtzeigen.de“.  Alle Projekte, die Sie dort beschrieben finden, sind wichtig,  und doch ist mir eines am wichtigsten, es heißt „7x jung“, ist eine interaktive Ausstellung, die wir „Trainingsplatz für Vielfalt und Respekt“ nennen. Mittlerweile waren dort gut 25.000 Jugendliche bei Workshops zu Gast und Lehrer/innen in Wochenendseminaren. Wir haben gerade die Finanzierung für das nächste Jahr sicher gestellt.
In  den sieben Themenräumen der Ausstellung, die als außerschulischer Lernort registriert ist, wird das Schicksal junger Menschen erzählt, die den Holocaust überlebt haben. Die Schulklassen, mit bis zu 50 Prozent Schüler/innen mit Migrationshintergrund, haben oft zum ersten Mal Gelegenheit, über eigene Fluchterfahrungen zu sprechen und gleichzeitig von deutscher Geschichte zu erfahren. Sie lernen dort aus der jüngeren deutschen Geschichte, warum Judenfeindlichkeit oder Rassismus keine Meinung ist, sondern menschenfeindliches Unrecht, das zu dem Verbrechen des Mordes an den europäischen Juden führte.  Statt „Schon Wieder „ oder „Immer noch“ werden wir der Friedensbotschaft des 11. November 1918 nur gerecht, wenn es bei dem „Nie wieder“ bleibt.