Der Skandal hat System!

"Gegen Nazis" Aufkleber von GEsicht Zeigen! an einem Laternenpfahl

Rechtsextreme Bedrohungen gegen zivilgesellschaftliche Akteur*innen nicht nur in Hessen

Ein Kommentar von „United! – Gemeinsam gegen Rechtsextremismus“

In den vergangenen Tagen wurde verstärkt über die öffentlich gewordenen rechtsextremen Drohbriefe in Hessen gegen Politikerinnen der Linken, Medienvetreter*innen und die Kabarettistin Idil Baydar gesprochen. Unterzeichnet waren sie mit dem „NSU 2.0“, was eine perfide Traditionslinie zu dem rechtsterroristischen Netzwerk suggeriert, das zwischen 1999 und 2007 mindestens 10 Menschen gezielt tötete. Mittlerweile führten die Entwicklungen zu den hessischen Drohmails zum Rücktritt des hessischen Polizeipräsidenten, der Einsetzung eines Sonderermittlers und zu Forderungen der Bundesregierung zur vollständigen Aufklärung, wer hinter den rechtsextremen Einschüchterungsversuchen steht.

Besonders beunruhigend ist dabei, dass Spuren zur Polizei in Frankfurt am Main selbst führen und Polizeirechner benutzt wurden, um die persönlichen Daten der Betroffenen abzufragen. Auch sind die Bedrohungen des „NSU 2.0“ nicht neu. Bereits 2018 und 2019 erhielt die Rechtsanwältin Başay-Yıldız mehrere Drohbriefe, die mit dem gleichen Kürzel unterzeichnet wurden. Auch damals führten Spuren zur Polizei in Frankfurt am Main. Dass sich damals Idil Baydar mit Başay-Yıldız solidarisierte und nun selbst ins Fadenkreuz der Bedrohungen geriet, ist nur einer der vielen traurigen Aspekte. Dass diese Bedrohungen aber über fast zwei Jahre unvermindert weiter gehen konnten, kann nur als Skandal bezeichnet werden.

Es könnte dazu verleiten „schon wieder Hessen“ zu sagen. Nach dem Mord von Halit Yozgat 2007 durch den NSU in Kassel, dem Mord an Walter Lübcke 2019 in Kassel und dem Anschlag in Hanau mit 9 Toten in diesem Jahr, ist das Bundesland erneut in den Schlagzeilen bezüglich rechtsextremer Gewalt. Doch es wäre vermessen, sich hier nur auf Hessen zu konzentrieren. Allein in diesem Jahr ziehen sich Vorfälle rechtsextremer Bedrohungen quer durch Deutschland, von der Ostsee über Niedersachsen und Sachsen-Anhalt bis nach Franken. Vollends unübersichtlich wird es, sobald auch die Vorfälle aus den letzten Jahren betrachtet werden. So ist in den Medien kurzzeitig von rechtsextremen Bedrohungen von Absendern wie der „Cyber Reichswehr“, dem „Staatstreichorchester“ oder der „National Sozialistischen Offensive“ zu hören, bevor sich die kollektive Aufmerksamkeit wieder anderen Themen zuwendet. Dabei zeigt eine chronologische Betrachtung: Rechtsextreme Bedrohungen und Einschüchterungsversuche haben Tradition und System.

Die Bedrohungen nehmen unterschiedliche Formen an: So wurden insbesondere im Zuge der sogenannten „Flüchtlingskrise“ oder bei Wahlkämpfen die Wahlkreisbüros von (Lokal-) Politiker*innen mit Drohungen oder Galgen-Darstellungen besprüht. In anderen Fällen, wie bei den Ermittlungen um das rechtsextreme Netzwerk „Nordkreuz“, waren es „Feindeslisten“, die publik wurden. In anderen Fällen waren es Briefe mit verdächtigem Pulver, E-Mails oder sonstige Bedrohungen im digitalen oder analogen Raum. Die aktuellen Fälle in Hessen zeigen, dass betroffene Frauen noch zusätzlich misogyner Hetze ausgesetzt sind. So vielfältig die Methoden auch sind, die Funktion und die Adressat*innen dieser Bedrohungen bleiben stets gleich.

Bedrohungen von politischen Gegner*innen waren und sind eine Kernstrategie der Extremen Rechten, die sich durch die deutsche Nachkriegsgeschichte zieht. Es geht ihnen darum, Menschen davon abzubringen, sich weiterhin gegen Rassismus, Rechtsextremismus und für ein demokratisches, gleichberechtigtes Gemeinwesen einzusetzen. Insbesondere Politiker*innen, Journalist*innen, Anwält*innen, Beratungsstellen, Bürgerrechtler*innen und Menschen, die sich ehrenamtlich engagieren sind betroffen; treffen kann es aber so gut wie jede*n. Sobald sich Menschen in einer demokratischen Gesellschaft nicht mehr für demokratische Werte engagieren, stehen rechtsextremen Akteur*innen Räume offen, in denen sie unwidersprochen ihre menschenfeindliche Ideologie verbreiten und ausleben können. Es geht also um Hegemonie und die Errichtung von Angsträumen.

Die Unklarheit über weitere Folgen einer Bedrohung durch Rechtsextreme, trägt oft zusätzlich zur Unsicherheit der Betroffenen bei. Denn: Es kann sein, dass die Bedrohung oder der eigene Name auf einer „Feindesliste“ bereits das Ende der Eskalationsspirale darstellt. Es ist aber genauso möglich, dass dies nur eine Zwischenstufe in der Radikalisierung der Bedroher*innen darstellt. So begann auch der NSU in seiner Jenaer Anfangszeit mit Einschüchterungen und dem Erstellen von Listen. Ebenso zeigt die aktuelle Forschung zu stochastischem Terrorismus, dass rechtsextreme Bedrohungen von Personen in der Öffentlichkeit dazu führen können, dass sich eine andere Person in der Extremen Rechten ermutigt fühlt, eben jene Drohung in die Tat umzusetzen. Die Unsicherheit über die Gefährlichkeit einer Bedrohung, kann selbst traumatisch wirken und für ein Gefühl der Ohnmacht sorgen.

Vor diesem Hintergrund ist es zunächst ermutigend, dass die Bundesregierung im Mai einen Kabinettausschuss „zur Bekämpfung von Rechtsextremismus und Rassismus“ einsetzte und Bundestag und Bundesrat vor einem Monat das Gesetz zur Bekämpfung des Rechtsextremismus und der Hasskriminalität verabschiedeten. Durch das Gesetzespaket wird unter anderem geregelt, dass zukünftig Bedrohungen, Androhungen von Straftaten oder öffentliche Verleumdungen leichter und schärfer bestraft werden können. Gesetzte leben natürlich immer nur von den Personen, die sie durchsetzten.

Das Problem dabei: Eine Broschüre der Betroffenenberatung ezra aus Thüringen von 2014 zeigte damals schon detailliert, dass Polizist*innen in Fällen rechtsextremer Bedrohungen und Angriffen nicht immer geschult und sensibilisiert auftreten. Die Broschüre zeigt, dass Polizist*innen die Bedrohungen mitunter als Einzelfälle bezeichnen, den politischen Hintergrund nicht einbeziehen und/oder die Betroffenen nicht ernst nehmen. Im Fall der „Feindesliste“ der rechtsextremen „Nordkreuz“-Gruppe“ in Mecklenburg-Vorpommern, wurden Betroffene erst vergangenes Jahr nach umfangreichem öffentlichen Druck durch das LKA informiert, nach fast zwei Jahren und selbst dies wohl unvollständig. Noch schlimmer wird es, wenn Polizist*innen und Vertreter*innen der Sicherheitsbehörden selbst in die rechtsextremen Netzwerke involviert sind, von denen die Bedrohung ausgeht. Dies war nachweislich der Fall in Mecklenburg-Vorpommern und so scheint es auch beim „NSU 2.0“ in Frankfurt am Main zu sein. Und genau hier zeigt sich die besondere Problematik des aktuellen Skandals aus Hessen.

Der Polizei obliegt bei rechtsextremen Bedrohungen eine besondere Verantwortung. Sie ist es, die Fälle aufnimmt und Täter*innen ermitteln soll. Sie steht dabei stellvertretend für den Staat, dessen Aufgabe es ist, seine Bürger*innen zu schützen. Zudem haben Polizeibeamt*innen Zugang zu sensiblen Daten, die anderen Menschen verwehrt sind. Hier müssen automatisch höhere Standards gelten als anderswo. Wenn durch fehlende Sensibilität oder sogar potentielle Mittäter*innenschaft der Polizei nicht mehr vertraut wird, dann ist dies ein fundamentales Problem für die Legitimität des Rechtstaats und für die gesamte Gesellschaft. Wenn staatliche Vertreter*innen wie Bundespräsident Steinmeier oder Bundeskanzlerin Merkel einfordern, dass sich Menschen gegen Rechtsextremismus und für ein demokratisches Miteinander engagieren, dann ist der Staat ebenso in der Pflicht, diese Menschen auch umfassend zu schützen. Dies gilt für Politiker*innen, Journalist*innen, prominente Bürgerrechtler*innen, wie auch für ehrenamtlich engagierte Menschen.

Gleichzeitig bedarf es mehr Rückenwind und Anerkennung durch die staatlichen Strukturen für die langjährige Arbeit und Leistungen von zivilgesellschaftlichen Akteur*innen, die in diesem Feld über umfangreiche Expertise verfügen. Dass ausgerechnet die Betroffenenberatung in Hessen, Response, derzeit auf wichtige Fördergelder warten muss, da diese scheinbar durch die Landesregierung nicht freigegeben werden, ist schlicht unerklärlich.

Eine unvollständige Auswahl an Handlungsempfehlungen in Fällen von rechtsextremer Bedrohung findet sich hier:

Des Weiteren verweisen wir auf unseren Offenen Brief, den wir als Teil des Kompetenznetzwerks Rechtsextremismusprävention, an die Bundesregierung zum neugebildeten Kabinettsausschuss zur Bekämpfung von Rechtsextremismus und Rassismus geschrieben haben.

 

Zu United – Gemeinsam gegen Rechtsextremismus:
Gemeinsam mit vier anderen Trägern ist Gesicht Zeigen! Teil des Kompetenznetzwerks Rechtsextremismusprävention. In diesem Rahmen wird sich unser neues Projekt United! Gemeinsam gegen Rechtsextremismus mit rechtsextremen Erscheinungsformen und Strategien insbesondere im Kontext der Justiz und Wirtschaft beschäftigen. Mit innovativen Formaten, Veranstaltungen und Materialien wollen wir aufrufen, anzeigen und eingreifen gegen Rechtsextremismus und all seine Ausprägungen.