In einem Gastkommentar für den ddp bezieht Uwe-Karsten Heye zur aktuellen Debatte um Jugendkriminalität Stellung.
Jugendgewalt und politische Ignoranz
von Uwe-Karsten Heye
Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, dass sich große Teile der politischen Klasse von der Lebenswirklichkeit der Menschen in Deutschland abgekoppelt haben, dann erleben wir es in der Debatte über Jugendgewalt. Anstelle einer ernsthaften Auseinandersetzung über entstandene oder sich verschärfende soziale Widersprüche ist kaum mehr als populistisches Gestammel zu vernehmen. Mancher Ministerpräsident, Landtagswahlen vor Augen, ist Teil des zweifellos drängenden Problems, dem er mit abenteuerlichen und rechtsstaatlich bedenklichen Vorschlägen beikommen will. Man weiß nicht, was dabei bedrückender ist, die totale Unkenntnis über Ursache und Wirkung, der kalte Hochmut oder die fahrlässige Ignoranz, mit der hier ein Thema behandelt wird, das alle Aufmerksamkeit und Ernsthaftigkeit verdient. Es hilft nicht, die offenkundige Tatsache einer in ihrer ethnischen Zusammensetzung bereits weitgehend veränderten Gesellschaft einfach zu leugnen. In manchen Regionen, vor allem in Ballungsräumen, befinden sich die Schüler mit sogenanntem Migrationshintergrund längst in der Mehrheit. So ist das nun mal, damit haben wir umzugehen, allen voran die Regierenden. Offenbar haben manche konservative Protagonisten vom demografischen Wandel und seinen Folgen nur unzureichend oder gar nicht Notiz genommen.
Mithin ist es Unsinn, von Ausländerkriminalität zu schwatzen. Die meisten der jugendlichen Gewalttäter wurden in Deutschland geboren; viele von ihnen haben ausländische Eltern. Das heißt, wir haben ein ganz anderes, seit langem bekanntes und benanntes Problem: Die Integrations- und Bildungsdefizite, mit denen sich niemand beschäftigen wollte, zeitigen nun ihre fatale Wirkung. Die Art und Weise, mit der Politik und Gesellschaft die Anforderungen einer sich wandelnden Realität übersehen haben, spräche eher für beschämtes Schweigen statt der vollmundigen Sprüche, von denen offenbar gehofft wird, dass sie Wähler und Wählerinnen zutreiben. Was wäre das für eine Gesellschaft, die ihre Problemkinder demnächst in Erziehungscamps wegschließen soll? Oder sie einfach abschiebt, um anderen aufzuhalsen, was wir nicht bewältigen. Was wäre das für eine Justiz, die sich auf einen „Warnschussarrest“ einließe? Der Deutsche Richterbund will da nicht mitmachen, glücklicherweise.
Also alles nur gefährliches Wortgeklingel, um sich nicht mit den eigenen Lebenslügen zu beschäftigen? Eine bekannte Lebenslüge bleibt, Deutschland sei kein Einwanderungsland. Eine zweite, deren Beseitigung immer drängender wird, ist das Schulsystem, das mit der Bewältigung der ethnischen Konflikte und den Defiziten der jungen Menschen völlig überfordert ist. Jedes Jahr verlassen zwischen 80.000 und 100.000 Jugendliche die Schulen ohne einen Abschluss, als halbe oder ganze Analphabeten. Damit verschärfen sich die Spannungen zwischen Holzklasse und Platinklasse. Die Lunte glimmt, der Zorn wächst, die Gewalt gedeiht. Und dabei ist eben kein Zufall, dass unter den Jugendlichen, die für sich keine Perspektive sehen, vor allem der Anteil der zweiten Generation aus Einwandererfamilien wächst. Auf der anderen Seite der gleichen Medaille wächst der Einfluss rechtsextremer Einflüsterer, und auch da wächst die Gewalt: 2007 werden wir auf ein weiteres Rekordjahr von Straf- und Gewalttaten mit rechtsextremem Hintergrund zurückblicken können.
Keines der tieferen Gründe für die wachsende Zahl von Gewaltexzessen, Kindesmisshandlungen oder -verwahrlosung spielen in der gegenwärtigen Debatte bislang eine Rolle. Statt in neue Jugendknäste, egal wie schönfärberisch sie benannt sind, sollten wir endlich in ein besseres Schulsystem und in flächendeckende Vorschulerziehung investieren. Und eine Kultur der zweiten und dritten Chance entwickeln. Wo soziale Probleme gewalttätig explodieren, da ist Hinsehen erste Bürgerpflicht. Und auch von Seiten der Politik sind Lösungen möglich, allerdings nicht mit populistischem Geschwätz.