„Alles, was ich mir wünsche, ist Respekt und dass endlich politische Verantwortung für Fehler übernommen wird. Es bringt mir meinen Jungen nicht zurück, es würde mir aber die Chance geben, vielleicht irgendwann wieder mal in Ruhe zu schlafen.“
Das schrieb Armin Kurtović, Vater von Hamza Kurtović, in einem Brief an den hessischen CDU-Abgeordneten Heiko Kasseckert. Ein Jahr ist der rassistische Terroranschlag von Hanau nun her, bei dem Tobias R. neun junge Menschen erschossen hat.
Über die Ideologie und Motivation des Täters, über die Tat und über die Opfer wurde seither viel geschrieben. Über die politischen Konsequenzen und den gesellschaftlichen Umgang mit der Tat eher weniger. Die Geschichte von Hanau ist die eines rechtsextremen Massenmords und zeugt gleichzeitig von institutionellem Rassismus und staatlicher Untätigkeit.
Warum muss der Vater von Hamza Kurtović überhaupt Respekt fordern? Weil er ihm verwehrt wurde. Sein Sohn kam in der Tatnacht schwer verwundet ins Krankenhaus und starb dort einige Stunden später. Der Familie wurde dies nicht mitgeteilt. Sie wurde im Unklaren gelassen. Den Leichnam von Hamza Kurtović konnte die Familie erst eine Woche später sehen. Eine Stellungnahme oder Entschuldigung seitens der Polizei gibt es bis heute nicht.
Warum wird den Angehörigen der Mordopfer dieser Respekt verwehrt? Warum wurden die angeschossenen verwundeten Überlebenden des Anschlags von der Polizei als erstes nach ihren Ausweisen gefragt, anstatt ihnen einen Krankenwagen zu rufen? Oder warum wurden sie allein und traumatisiert durch die halbe Stadt geschickt, um eine Aussage zu machen?
Die Familie von Mercedes Kierpacz, die in der Tatnacht im Auto vor dem Anschlagsort ausharrte, um Gewissheit zu bekommen und sich von ihrer Mutter und Tochter wenigstens verabschieden zu können, wurde von Polizist*innen mit vorgehaltenen Waffen eingeschüchtert. Sie mussten mit erhobenen Händen aussteigen und andere Polizeibeamt*innen um Hilfe bitten, bis diese erniedrigende Prozedur beendet wurde.
Die Opfer und ihre Familien selbst wurden zu potenziellen Tätern erklärt. Nachdem der Vater von Tobias R. im März 2020 wieder in sein Haus in Hanau Kesselstadt zurückkehrte, wurde den Angehörigen und Überlebenden eine Gefährderansprache gehalten. Die Kontaktbeamt*innen der Polizei wiesen sie an, sich nicht an dem Vater zu rächen und machten ihnen klar, dass die Opferfamilien unter genauer Beobachtung stünden.
Alle neun Todesopfer wurden direkt nach der Tat obduziert, obwohl bis heute völlig unklar ist, was die Obduktion für Ermittlungserkenntnisse bringen sollte. Die Angehörigen indes erfuhren aufgrund dieser Obduktionen drei Tage lang nicht, wo sich die Leichen ihrer ermordeten Kinder oder Eltern befanden. Für viele verhinderte das ein würdiges Verabschieden.
Viele Familien sind nach dem Anschlag in finanzielle Not geraten. Einige haben den Hauptverdiener verloren, andere können aufgrund der psychischen Folgen nicht mehr arbeiten gehen. Als sich in den Monaten darauf herausstellte, dass der Vater von Tobias R. die rassistische Ideologie seines Sohnes teilt, bekamen die Überlebenden und Angehörigen keine weitere Ansprache, geschweige denn eine Entschuldigung der Kontaktbeamt*innen. Über die Gesinnung des Vaters erfuhren sie nur aus den Medien. Wieder werden die Hinterbliebenen nicht unterstützt, sondern verdächtigt. Es gibt erschreckende und erschütternde Parallelen zu den Ermittlungen rund um die NSU Morde.
Der Attentäter plante seine Tat lang und akribisch und, so belegen jüngste Recherchen, auch nicht in der Isolation, wie lange Zeit angenommen wurde. Er fertigte detaillierte Pläne an, wie viele Menschen er an welchen Orten erschießen wollte und er teilte den Sicherheitsbehörden zumindest Teile davon selbst . Die stoppten ihn nicht. Eines seiner Opfer versuchte das, Vili Viorel Păun. Der 22-Jährige beobachtete die ersten drei Morde aus seinem Auto heraus und versuchte, sich dem Täter mit seinem Wagen in den Weg zu stellen. So ist es auf Überwachungsvideos zu sehen. Als Tobias R. dann in Richtung Kesselstadt fuhr, verfolgte Vili Viorel Păun ihn und wählte mehrmals den Notruf. Doch er erreichte niemanden.
Heute ist klar, dass der Notruf in Hanau unterbesetzt . Der Vater von Vili Viorel, Niculescu Păun, ist sich sicher, dass sein Sohn noch leben könnte, hätte er die Polizei erreicht. Und Vili Viorel Păuns heldenhafter Einsatz wird bisher kaum gewürdigt. Stattdessen wurde noch nicht mal auf seiner Sterbeurkunde der richtige Name vermerkt. Sein Vater musste feststellen, dass sein eigener Name, Niculescu, auf der Urkunde stand.
Der Täter hat sich wohl kaum im luftleeren Raum radikalisiert. Darauf deuten seine Militärübungen im Ausland, der Besitz tödlicher Waffen und die Offenbarung seiner mörderischen Pläne im Internet sehr deutlich hin. Das alles hätte den Sicherheitsbehörden bekannt sein müssen. Sie hätten den Anschlag vielleicht verhindern können. Das sie es nicht taten, ist nur ein weiteres Glied in der langen Kette behördlichen Versagens beim Kampf gegen Rechtsterrorismus. Und wieder wurden die Familien der Opfer und die Hinterbliebenen verdächtigt, sie wurden nicht unterstützt sondern mit ihrem Schmerz allein gelassen. Hat man aus den fatalen Fehlern bei den Ermittlungen nach den Morden des NSU gar nichts gelernt?
Das Mindeste was die Stadt Hanau, das Land Hessen und die Bundesermittlungsbehörden hier noch tun können, ist, die Umstände und den Verlauf der Tat lückenlos aufzuklären, die Angehörigen und Überlebenden zu unterstützen und ihnen den Respekt zu erweisen, den sie verdient haben. All das ist bisher nicht oder nur unzureichend geschehen.
Wir gedenken Ferhat Unvar, Gökhan Gültekin, Hamza Kurtović, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Sedat Gürbüz, Kaloyan Velkov, Fatih Saraçoğlu und Vili Viorel Păun. Wir werden ihre Namen nicht vergessen.
Weiterführende Informationen und eine umfassende Dokumentation des behördlichen Versagens erhalten Sie unter folgendem Link der Initiative 19. Februar: Wir klagen an! Ein Jahr nach dem rassistischen Terroranschlag – Initiative 19. Februar (19feb-hanau.org)