Gedanken zum Ende des Zweiten Weltkrieges vor 75 Jahren von Uwe-Karsten Heye, Mitbegründer und Vorstandsvorsitzender von Gesicht Zeigen!
Falsche Gleichsetzungen unterschiedlicher Ereignisse verraten oft mehr über die, die sie äußern, als ihnen lieb sein kann. Das gilt auch für die von manchen Politikern geäußerte Überzeugung, die Corona-Pandemie sei in ihren Folgen vergleichbar mit dem Zweiten Weltkrieg. Beide seien, so ist zu hören und zu lesen, die bislang größten Herausforderungen, in der deutschen Geschichte.
Wer dieser Analogie zustimmt, gerät leicht in Verdacht, die historische Katastrophe des deutschen Nationalsozialismus als einen verzeihlichen Irrtum abgeheftet zu haben („Vogelschiss der Geschichte“). Weder die Shoah mit sechs Millionen ermordeten Menschen jüdischen Glaubens noch die tausenden ermordeten Sinti und Roma oder die 60 Millionen Toten des Zweiten Weltkrieges, im deutschen Geschichtsbuch schuldhaft verewigt, lassen sich aber so einfach wegverhandeln.
Das Gift des Nationalsozialismus hingegen zeigt zudem in manchen Bevölkerungsgruppen aktuell erneut Wirkung. Stichworte: Nationalsozialistischer Untergrund (NSU), Ausschreitungen in Chemnitz, die Attentate in Halle und Hanau, die Ermordung von und Mordaufrufe gegen kommunale Politiker, antisemitische Hasstiraden im weltweiten Netz, und seit dem Fall der Mauer wachsender Terror von Rechts mit 208 Todesopfern, umgebracht von rechtsextremen Gewalttätern.
Der Kampf gegen das unsichtbare Virus und die Abwehr des erneut wuchernden Rechtsextremismus fordern das Land heraus. SARS-CoV-2 und Rechtsextremismus: Beides ist ansteckend. Doch die Diskussionen und die Lösungen der Probleme im Kontext einer weltweiten Pandemie geraten besser ohne Hinweis auf den Zweiten Weltkrieg. Nationalsozialistische deutsche „Herrenmenschen“ haben den Überfall auf Polen angezettelt, um den Rest der Welt zu versklaven. Das bleibt in der Geschichte ein unvergleichbares Menschheitsverbrechen. Und mit einer Virus-Pandemie hat das gar nichts zu tun. Wenn schon Vergleiche, dann hat – global gesehen – die von der Menschheit verschuldete Erderwärmung und die damit drohende Klimakatastrophe das Potenzial, ähnlich vernichtend zu wirken wie der Zweite Weltkrieg, ihn sogar zu übertreffen.
75 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs hat das vereinigte Deutschland daher auch mit Blick auf die eigene Geschichte, und zugleich als wirtschaftsstärkstes Mitglied der EU, eine besondere Verantwortung für das grenzenlose Europa, und seine friedenspolitische Dimension. Das bedeutet auch, nicht untätig zuzusehen, wenn EU-Mitglieder wie Ungarn oder Polen das demokratische und humane Wertegerüst Europas zur Disposition stellen, und damit auch die unverhandelbaren Menschenrechte der Vereinten Nationen und ihre weltweite Geltung zu dementieren oder aufzulösen.
Am 8. Mai 1945 endete der Zweite Weltkrieg. Heute steht eine neue Generation in der politischen Verantwortung für Deutschland in Europa. Zeitzeugen werden weniger, und so war es durchaus keine Übertreibung, in einer Tageszeitung die Schlagzeile zu lesen: „Der Zweite Weltkrieg tobt in deutschen Altenheimen“. Der Text beschäftigte sich mit der unmittelbaren Kriegs- und Nachkriegsgeneration, die als Kinder und Jugendliche in den Kellern der zerbombten Städte überlebten, von Fluchterfahrungen, von den Schrecken der Todestrecks aus dem Osten, von denen die heutigen Altenheim-Bewohner lebenslang begleitet und psychisch gezeichnet waren.
Hitlers langen Schatten spüren sie im Alter erneut und erinnern sich wieder. Anders als die aktuellen Fluchtbewegungen unserer Tage waren damals die Flüchtlinge Deutsche aus einem untergegangenen Deutschland. Sie waren trotzdem ähnlich unwillkommene Konkurrenten bei Wohnungsnot oder auf dem Arbeitsmarkt. Im Alter, so aktuelle Studien, erinnern Menschen zwischen 75 und 85 Lebensjahren heute ihre Kindheit in den letzten Kriegstagen. Albträume kehren wieder aus den Tiefen verdrängter Erinnerung, die sie als Kinder in den Kältezonen strenger Winter- und Hungerjahre nach 1945 als Kriegstraumata durchmachten, und die sie nun im Alter nachts wieder heimsuchen.
Hitlers langer Schatten bedeckt viele Nischen, in denen die Tätergeneration versuchte, sich der Vergangenheit zu entledigen und sich dabei vielfach vor Antworten auf Fragen der Kinder und Enkel am Mittagstisch zu drücken oder mit kläglichen Bemerkungen zu ignorieren, um sich dahinter zu verbarrikadieren. Zumeist blieben viele Kinder oder Enkel daher mit ihren Fragen allein, umgeben von Mitläufern und Schuldigen, die unerbittlich ihre Unschuld behaupteten.
Das war Alltag in vielen Familien in der Bundesrepublik, und wie der Erfolg der rechtsextremen AfD auch in den „neuen“ Ländern zeigt, ähnlich wohl auch in der DDR. In beiden Deutschländern gab es postfaschistische Überzeugungen, die dank des Ost-West-Gegensatzes und Kalten Krieges von den jeweiligen Siegermächten nicht nachgefragt oder vorgehalten wurden. Schon bald wurden in der Bundesrepublik ehemalige Mitglieder der NSDAP wieder in den Öffentlichen Dienst übernommen. Mit der Mehrheit von CDU/CSU und FDP wurde ein entsprechendes Verbot der Alliierten im Bundestag kassiert.
Schon Mitte der 50er Jahre des vorigen Jahrhunderts waren die braunen Eliten in der Bundesrepublik erneut tonangebend in der öffentlichen Verwaltung, Justiz, Wirtschaft und auch an den Universitäten. Es dauerte bis Ende der 1960er Jahre ehe so etwas wie Scham über den Naziterror aufkam. Ausgelöst in Frankfurt durch die Auschwitzprozesse, die trotz massiven Widerstandes aus der Justizverwaltung der Bundesrepublik endlich zur Anklage kamen. Das Schicksal einer Million Opfer wurde verhandelt, von denen viele spurlos in den Todesmühlen des KZ-Auschwitz und seiner Nebenlager verschwanden.
Ohne die Hartnäckigkeit des hessischen Generalstaatsanwaltes Fritz Bauer, der als Jude aus Deutschland emigriert war, und sich nach seiner Rückkehr bemühte, restaurative Tendenzen zu bekämpfen, wäre es vielleicht bis heute bei dem unvollendeten Versuch geblieben, möglichst viele Nazi-Verbrechen, wie die Prozesse um das Vernichtungslager Auschwitz, zur Anklage zu bringen. Nach seiner Rückkehr nach Deutschland soll Fritz Bauer gesagt haben: „Außerhalb meines Büros beginnt Feindesland.“
Täglich erreichten ihn Schmähungen und Morddrohungen, so wie es auch heute viele erleben, die ihre Stimme gegen Rassismus und Rechtsextremismus erheben. Fritz Bauer wollte verhindern, dass der Naziterror ungesühnt blieb. Längst hätte er ein Denkmal verdient, weil er diesem Land, dem er diente, half, die Rückkehr zu Rechtstaat und Demokratie zu ermöglichen. Er verstarb am 1. Juli 1968 unter nie ganz geklärten Umständen in seiner Wohnung in Frankfurt.
In dem Jahr, in dem Fritz Bauers Leben endete, übernahm es eine rebellierende studentische Generation, die 68er genannt, endlich Antworten auf die Frage zu fordern, wie der Faschismus Hitlers in Deutschland möglich werden konnte. Auch das ist unterdessen mehr als ein halbes Jahrhundert her. Und noch immer gilt: Wir müssen alles tun, eine Wiederholung unmöglich zu machen. Das „Nie Wieder“ bleibt eine dringliche Forderung und braucht ebenso beständig Erneuerung. Die Kenntnis der deutschen Geschichte ist Voraussetzung, damit sie sich nicht wiederholt.
Seit 20 Jahren wächst der gesellschaftliche Widerstand gegen aufkommende rechtsextremistische Unterwanderung. Zusammen mit vielen Initiativen geht es um klare Kante gegen rechten Terror und zerstörerischen Nationalismus: Gesicht Zeigen! Für ein weltoffenes Deutschland!